Gilbert, Anthony

Crow Undersongs for Viola

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2007
erschienen in: das Orchester 05/2008 , Seite 57

Wem der Name Anthony Gilbert bislang nichts sagte, hat mit diesen beiden Wiederveröffentlichungen [Crow Undersongs, Dawnfaring] die Chance, eine veritable Bildungslücke zu schließen. Gilbert (Jahrgang 1934) war als Komponist ein Quereinsteiger, strebte zunächst eine Laufbahn als Übersetzer an und fand vergleichsweise spät den Weg zu seinen Lehrern Mátyás Seiber und Alexander Goehr. Seine Werke sind stilistisch von ausgeprägter Individualität und widersetzen sich meist den gängigen Klassifizierungen. „Komponieren war für mich immer ein Entdeckungsprozess“ – entsprechend bunt sind die musikalischen Ausdrucksmittel, derer er sich im Laufe der Jahrzehnte bedient hat, ohne dabei in die seichte Gefälligkeit der „Accessibles“ (der „Zugänglichen“) zu verfallen. Dass ausgerechnet die Edition Schott nun zwei Werke für Viola aus den 80er Jahren neu aufgelegt hat, hat vermutlich aber auch historische Gründe: Von 1965 bis 1970 war Gilbert nämlich Lektor für zeitgenössische Musik bei Schott in London.
Die beiden Stücke lassen die Vielfältigkeit ihres Autors exemplarisch erahnen: Obwohl nur ca. fünf Jahre zwischen ihnen liegen, zeigen sie kaum stilistische Gemeinsamkeiten. Und bei aller Bildhaftigkeit schafft Gilbert in beiden Fällen das Kunststück, niemals oberflächlich plakativ zu wirken, sondern seine musikalische Logik konsequent (meist aus äußerst reduziertem Material) und klanglich überraschend zu entfalten. Crow Undersongs für Soloviola (aus den Jahren 1979 bis 1981) bezieht sich auf traditionelle indische Musik: Die kurzen Abschnitte des ersten Formteils sind u.a. mit „Sthayi“ oder „Antarà“ überschrieben (gängigen Teilen eines Ragas), und auch das die fünf Partiturseiten durchziehende Zitat („to Bhairavi … skull in hand, moon in flying hair … sings Bhairava“) spielt auf Gottheiten der indischen Mythologie an. Der zweite und dritte Abschnitt besteht fast ausschließlich aus melodischen oder rhythmischen Zellen, die in beliebiger Reihenfolge verschieden oft gespielt werden sollen – hier scheint sich die orientalische Improvisationskunst mit der Aleatorik der europäischen Avantgarde zu treffen.
In Dawnfaring für Viola und Klavier (von 1981 bis 1984) spielt dagegen der australische Kulturkreis (den Gilbert als Leiter der Kompositionsklasse am Konservatorium von New South Wales für sich entdeckte) die entscheidende Rolle. Die Brücke nach Europa schlägt dieses Mal offenbar Olivier Messiaen: Hinter den mysteriösen Satzüberschriften „graculina“, „gymnorhina“ und „manorina“ verbergen sich nämlich drei australische Singvögel, die hier (nicht ohne Humor) porträtiert werden: Im ersten Satz steigert sich der Gesang der Dickschnabel-Würgerkrähe in metrisch frei wuselnden Tonblöcken vom zaghaft rufenden Einzeltier zum wild kreischenden Schwarm; die pentatonisch angehauchte, weit ausgreifende Melodie des Flötenvogels prägt den Mittelsatz; und das penetrante Geschnatter des Schwatzvogels bringt den kleinen ornithologischen Zyklus dann in einem ungestümen Perpetuum mobile zu einem fulminanten Abschluss.
Joachim Schwarz