Olbrisch, Franz Martin
Craquelé / Grain / flöte, sounds & live-electronics / coupures de temps …
Ich habe für mich das Bild entwickelt, verrät der 1952 geborene Komponist Franz Martin Olbrisch im Booklet der vorliegenden CD, dass ein Musikstück wie eine Skulptur ist: Man kann sie nicht nur von einer Seite betrachten, sondern man kann drumherum gehen und sieht dabei immer wieder andere Aspekte. Bei Olbrischs Werken muss der Zuhörer, um im Bilde zu bleiben, sehr nah an die Musik herangehen. Denn die Schönheit von filigranen Strukturen und von zarten Klängen erschließt sich erst, wenn man die Ohren sehr weit öffnet. Craquelé z.B., ein rund 18 Minuten dauerndes Stück für Sinfonieorchester, wirkt wie ein langsamer Gang an fein gesponnenen Texturen entlang. Es beginnt mit einem knapp 30 Sekunden dauernden Klangkomplex, an dem alle Instrumentengruppen mit winzigen Gestalten beteiligt sind. Dieser Ausschnitt aus einer größeren Klanglandschaft wird dann mit stets wechselnder Beleuchtung erkundet: Manches tritt schärfer hervor, anderes gerät in Hintergrund. In dieser Weise tastet sich die Musik voran, immer mit einer faszinierenden Mischung aus Statik und Veränderung. Nach einigen Minuten befindet man sich auf völlig verändertem Terrain, die Musik ist ausgedünnt bis auf oszillierende Flötenklänge, eine Solo-Violine in hoher Lage, Einsprengsel im tiefen Register durch Kontrafagott und Tuba sowie einen im mikrotonalen Bereich mäandernden Kontrabass. Auch diese Situation zieht langsam am Rezipienten vorbei. Musik dieser Art will den Hörer nicht überwältigen, sondern zum wachen Hinhören verleiten. Dazu trägt ein Orchestersatz bei, der ganz auf Transparenz und Durchhörbarkeit setzt.
Trotzdem bleibt die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit für den Hörer, alles gleichzeitig wahrzunehmen. Was von Olbrisch durchaus gewollt ist. Mit der Vorstellung eines autonomen, vollständigen Sinn erzeugenden Kunstwerks kann der an der Hochschule für Musik in Dresden lehrende Künstler nämlich nicht viel anfangen. Als Theoretiker seiner selbst spricht er lieber von Möglichkeitsräumen, von Irritationen mit noch offenen Anschlussentscheidungen oder von der Verabschiedung linearen zugunsten zirkulären Hörens. Diese Offenheit schlägt sich auch in der Verwendung von Multiphonics, komplizierter Polyrhythmik oder Ton- bzw. Geräuschbildungen nieder, deren Ergebnisse nicht gänzlich kontrollierbar sind. Zugrunde liegen der Musik allerdings rational fassbare Gliederungen. Die Klangwelt von Craquelé etwa beruht auf gestreckten oder gestauchten Obertonspektren, die in Kombination mit Zeitverläufen, die aus Zahlenreihen generiert wurden, mehrere polyphone Schichten und eine weitgehend mikrotonale Intervallik ausbilden, schreibt Leonie Juliane Reineke in ihrem erhellenden Booklet-Beitrag. Craquelé entstand 2010 als Auftragswerk des Hessischen Rundfunks. Zusammen mit drei weiteren Stücken Grain für großes Orchester, flöte, sounds & live-electronics sowie coupures de temps
für Kammerensemble und Live-Elektronik bietet die CD ein aufschlussreiches Porträt des Komponisten Franz Martin
Olbrisch, dessen uvre allerdings weitaus vielfältiger ist. Mehr Infos, u.a. auch PDFs von Partituren, finden sich auf der Website des Komponisten www.olbrisch.eu/home.html.
Mathias Nofze


