Locatelli, Pietro Antonio

Concerto No. 1 D-Dur/Concerto No. 2 c-Moll/Concerto No. 3 F-Dur/Concerto No. 4 E-Dur/Concerto No. 5 C-Dur/Concerto No. 6 g-Moll op. 3

für Violine und Orchester, Klavierauszüge

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2006
erschienen in: das Orchester 12/2006 , Seite 87

Das Besondere an den Concerti von Locatelli ist, dass sie im Grunde die Konzertform, wie wir sie kennen, sprengen; denn die von Vivaldi her bekannte Form schnell – langsam – schnell wird in den schnellen Ecksätzen durch Capricen erweitert, die ziemlich lang sind und allein vom Solisten gespielt werden. Am Ende dieser Capricen folgt dann jeweils die improvisierte Kadenz.
Locatelli war ein außergewöhnlicher Violinvirtuose und komponierte diese Konzerte während einer Tournee durch europäische Städte von 1723 bis 1727. Sie wurden 1733 gedruckt und stellten damals den neuesten und höchsten Stand violinistischer Virtuosität dar. Der Solist tritt dabei häufig improvisierend aus dem Orchester heraus und zeigt seine stupende Kunstfertigkeit. Die Capricen sind wohl eine Art Summe der Virtuosität, mit der Locatelli sein Publikum faszinierte. Er schrieb hier Improvisationen nieder, die er in seinen Konzerten spielte.
Die zwölf Capricen (je zwei pro Concerto) zeigen den Stand virtuoser Violintechnik zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Dazu gehört das Spiel in hohen Lagen, Überstreckungen des kleinen Fingers nach oben und das Zurückziehen des Zeigefingers, Überstreckungen der mittleren Finger, Akkordbrechungen in hoher Lage, das Spiel mit Doppelgriffen und die Beherrschung verschiedener Bogenstriche. Diese oft extremen Techniken dienen Locatelli dazu, eine reiche Palette von Klangfarben aus der Violine hervorzuzaubern. So werden in der 2. Caprice (Concerto I) abwechselnd leere Saite und 4. Finger mit Doppelgriffen kombiniert. Die 12. Caprice (Concerto VI) besteht aus Terzfolgen und Akkordspiel, wodurch der Violinklang zur Stärke eines Orchesters gesteigert wird. Beim Spiel zusammen mit dem Orchester überrascht die Violine mit ihren überaus hohen Tönen wie etwa im Concerto III, die zum Teil über das Griffbrett hinausgehen, sodass das Instrument wie eine Piccoloflöte klingt.
Die Ausgabe von Albert Dunning ist vor allem wertvoll für das Studium der Violine. Hier kann barocke Virtuosität in einer äußerst fortgeschrittenen Stufe erlernt werden. Sicherlich steht dabei die Violintechnik im Vordergrund. Doch man kann annehmen, dass Virtuosen wie Locatelli aus diesen extremen Techniken vor allem auch Funken des Ausdrucks schlugen und damit ihr Publikum zur Begeisterung mitrissen. Ein „Paganini“ von heute kann hier Neues entdecken. So ist diese Ausgabe gleichermaßen für die Pädagogik wie für das Konzertieren wichtig.
Zu den Vorzügen der Ausgabe zählen die gut lesbare Notenschrift und das übersichtliche Druckbild. Bedauerlich ist, dass keinerlei editorische Angaben gemacht werden und so der Spieler nicht weiß, welche Artikulationszeichen von Locatelli und welche von Albert Dunning stammen. Das erschwert die Erarbeitung einer eigenen Interpretation. Heute gehören die Methoden der historischen Aufführungspraxis zum selbstverständlichen Rüstzeug eines jeden Musikers. Notenausgaben sollten dieser Entwicklung Rechnung tragen.
Franzpeter Messmer