Hindemith, Paul

Concerto for Violin and Orchestra/Sonatas for Violin and Piano

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BIS BIS-2024, 1 SACD
erschienen in: das Orchester 10/2013 , Seite 75

Wer hat gesagt, dass Paul Hindemiths Musik schwer zugänglich sei, zu unterkühlt, trocken und sperrig? Dass der Neoklassik dieses Komponisten, der vor 50 Jahren starb, Sentiment, Emotion, Klangglanz und lyrische Eleganz fehle? Frank Peter Zimmermann räumt mit diesen Vorurteilen über den Frankfurter tüchtig auf. Selten hört man einen so poetischen, transparenten, ja sogar flirrend-schwebenden Geigenton wie in diesem Fall. Der Solist der Violinwerke Hindemiths – neben dem Violinkonzert (1939) noch die Solo-Sonate op. 31 Nr. 2 (1924), die Sonate in E für Violine/Klavier op. 11 Nr. 1 (1918), die Sonate in E für Violine/Klavier von 1935 und die Sonate in C für Violine/Klavier (1939) – weist alles Schwere, Träge, Kompakte und Spröde von sich und setzt stattdessen auf leuchtenden, silbrigen, vor allem einfühlsamen Klang, der wiederum ein ganzes Spektrum an feinnervigen Differenzierungen aufweist. Zimmermann siedelt alle anstehenden Partituren im dankbaren und beinahe grenzenlosen Poesie-Raum an. Die Musik gewinnt so an Adel, Spiritualität, Vitalität und enormer Binnenspannung. Hindemith, Geiger und Bratscher, somit mit den Saiteninstrumenten und ihren Möglichkeiten bestens vertraut, hat kein allzu großes Schaffen für die Violine hinterlassen. Aber die fünf Stücke geben Kenntnis von seiner Kom petenz für die kammermusikalisch zugeordnete Violine (auch im Zusammenklang mit Orchester oder mit dem Klavier). Er durchschreitet in den Sonaten nahezu alle Farben und emotionalen Stationen – von düsterer Hoffnungslosigkeit bis zur majestätisch angelegten Fuge, von der Melancholie bis zum himmelsstürmenden Jubelgruß, von wütender Reduktion bis zur fulminanten Klangmischung. Das heißt: Zimmermann und Hindemith gehen eine fabelhafte Partnerschaft ein, bei der der Solist – auch zusammen mit seinem zurückhaltend „dienenden“ Pianisten Enrico Pace und dem Dynamik- Dirigenten Paavo Järvi nebst dem ausgezeichneten hr-Sinfonieorchester – die entscheidenden Parameter vorsetzt. Das ist zusammen: große Mu – sik, leidenschaftliche Interpretation, musikantisch unterfütterte Durchsetzungskraft. Und das bei Hindemiths angeblich so „blutleerer“ Ästhetik?!
Höhepunkt dieser CD: das Violinkonzert, ein knapp 30-minütiges Denk- und Herz-Spiel vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Hindemith hatte sich bereits in die USA abgesetzt, nachdem die Nazis die Aufführung seiner Kompositionen verboten hatten. Entstanden ist das Konzert im Schweizer Exil. So fand die Uraufführung 1940 schließlich in Amsterdam statt. Erstaunlich viele „Anleihen“ bei der Romantik lassen sich in den drei Sätzen aufspüren: die irisierende Harmonik, das lyrische Ich, die ins Tiefe gehende Auseinandersetzung mit Zeit und Gesellschaft sowie die gründelnde, jedoch wärmende Nachdenklichkeit. Frank Peter Zimmermann geht Themen, Motive, Struktur, Tempi sowie die vertrackte technische Herausforderung mit entwaffnender Souveränität an. Da gibt es kein Zögern, kein Zaudern. Er steht voll und ganz auf Hindemiths Seite. Er begreift diesen Komponisten als substanziell wichtiges Bindeglied zwischen Tradition und Moderne. Und das Violinkonzert lebt, wie letztlich auch die im selben Jahr komponierte Sonate, vom Optimismus. Das alles ist ihm hoch anzurechnen.
Jörg Loskill