Tchaikovsky, Boris
Concerto for violin and orchestra/Sonata for violin and piano
Boris Tschaikowski zählt zu jenen russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, die noch immer nicht so recht in der westlichen Musikwelt angekommen sind. Diese CD selbst liefert den Beweis: Sie ist zwar neu, insofern gerade erst, 2011, erschienen. Bei beiden hier eingespielten Werken handelt es sich aber um technisch aufbereitete alte Melodija-Produktionen von 1962 und 1972, will sagen: Seither haben beide Werke nicht mehr die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten. Zwar: Das Violinkonzert liegt auch in einer Live-Einspielung desselben Solisten mit dem Odense-Sinfonie-Orchester vor, die aber aufgrund unzulänglich weggefilterter Störgeräusche nur bedingt konkurrenzfähig ist.
Außer dem Widmungsträger Viktor Pikaizen hat es noch kein anderer Violinvirtuose eingespielt. Was erstaunlich ist, denn es handelt sich um ein einerseits anspruchsvolles, andererseits aber auch eingängiges und daher dankbares Werk ganz in jenem klassizistisch-poetischen Stil, der auch für Tschaikowskis andere Kompositionen charakteristisch ist. Die Instrumentierung weist einige Besonderheiten auf: Ungewöhnlich ist z.B. die Einsätzigkeit des Werks, ungewöhnlich auch die ausschließliche Beschränkung auf die Streicher über einen langen, meditativ wirkenden Zeitraum hinweg. Ungefähr in der Mitte der Komposition schleichen sich dann gleichsam auf leisen Sohlen die Pauken in die Partitur, während die Holz- und Blechbläser erst im letzten Abschnitt Gehör finden.
Über die Aufnahme selbst muss man nicht viel sagen. Die Moskauer Philharmoniker als eines der besten Orchester der Welt unter dem legendären Kirill Kondraschin, dazu einer der besten Violinsolisten der an Meistern nicht gerade armen russischen Schule: Sie alle werden in dieser Einspielung ihrer musikalischen Aureole mehr als gerecht.
Wen das Violinkonzert noch nicht zu entzücken vermag, den muss die 1959 entstandene und von Pikaizen gemeinsam mit dem Komponisten und übrigens: hinreißend musizierte Violinsonate für sich einnehmen. Phänotypisch ähnelt sie dem Violinkonzert insofern, als auch hier die Geige fast ohne jede Pause im Einsatz ist. Anklänge an die Kammermusik seines Lehrers Dmitrij Schostakowitsch sind hier unüberhörbar und trotzdem spricht Tschaikowski eine ganz eigene, hochmelodische und wiederum äußerst lyrische Musiksprache, die dem Solisten einiges (und mehr als im Violinkonzert) an Virtuosität abverlangt. Fließt das Andante noch mit wunderschönen Melodiebögen elegisch dahin, so kommt es im Allegro zu geradezu jazzartigen Brüchen, die ein wenig an den ersten Jazzkomponisten Max Reger erinnern (ich spreche vom Vivacissimo aus Regers F-Dur-Sonate op. 78 für Violoncello und Klavier).
Es wird Zeit, sich mit Boris Tschaikowski bekannt zu machen!
Friedemann Kluge