Nono, Luigi

Composizione per orchestra n. 1/Der rote Mantel

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 66672
erschienen in: das Orchester 07-08/2004 , Seite 80

Wer nichts sagt, sagt alles; denn das Nichts enthält alles, die Stille birgt ungeborene Klänge. „Was ist das, außer einem Widerspruch in sich?“, fragt das Booklet. Wo Worte fehlen, beginnt Musik. Wie also ließe sich die menschliche Komplexität besser beschreiben als durch Musik, die nicht festlegt, sondern beim Hörer auf den Widerhall seiner eigenen Geschichte trifft, ebenso wie ein anderer Mensch es tut. Aus dem Nichts steigt eine leise Brise, erste Fetzen Klang betönen windspielend die Leere, locken weitere Klänge an, die nach kurzem Aufglühen in äscherner Unkenntlichkeit erlöschen. Plötztlich die Vereinigung aller polyfonen Teile des Nichts zu einem chaotischen Aufbäumen in einem finalen Schlagzeugstrudel.
Viel wurde spekuliert über Luigi Nonos Composizione per orchestra n. 1 (1951): Manche vermuten ein Selbstbildnis des Komponisten hinter den nur scheinbar wahllos aneinander gereihten Klängen. Nono selbst wird die Gründe für sein Schweigen über sein knapp viertelstündiges Werk gekannt haben, dem er die Maske einer „absoluten“ Musik aufsetzte, die wiederum aus einer maskierten Neuntonreihe besteht.
Zeit seines Lebens stellte er sich die Frage wer er sei, wohin er gehe, mit wem und warum. Nono selbst muss sein eigenes und das Leben an sich als strengen Gesetzen folgend empfunden haben, die sich ihm jedoch in ihrer Tragweite nicht offenbarten. Dies Suchen und Spekulieren, all die offenen Fragen scheinen jedenfalls die musikalische Sprache nicht nur der Composizione zu sein, sondern auch diejenige des Balletts Der rote Mantel.
Luigi Nono folgte als Verehrer des andalusischen Bühnenautors Garcia Lorca dem Wunsch von Tatjana Gsovsky, die 1954 aus Lorcas El amor de Don Perlimplin con Belisa in su jardin für die Deutsche Oper Berlin ein Ballett entworfen hatte, und komponierte eine Musik nach obiger Vorlage. Anders als im Bühnenstück geht es Nono jedoch nicht um politische Parolen, sondern um einen poetischen Liebesreigen, der allein schon aufgrund seiner Gesangsteile eher oratorisch als ballettös anmutet. Wieder bedient Nono sich einer suchenden musikalischen Gestik, die zwischen den höchsten Höhen eines Soprans, den Klängen verirrter Glöckchen und den Tiefen der Streich- und „Blas“-Bässe eine unstete klangliche Maskerade entwirft, Täuschungen und Ent-Täuschungen der Liebenden nachzeichnet, als wären diese traumwandelnde Schatten ihrer selbst.
Die Koloratursopranistin Angelika Luz meistert die enormen stimmlichen Anforderungen der Partitur mit schwebender, glockenreiner Leichtigkeit, in die sich der RIAS Kammerchor hineinschleicht oder die er weiterführt. Die Sensibilität, mit der sowohl die Solisten (Jörg Gottschick, Bariton) und das hervorragende Schlagwerk als auch der Chor und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Peter Hirsch die musikalische Sprache Nonos sprechen, machen die vorliegenden Kompositionen zu einem nachvollziehbaren Klangkaleidoskop, einer Art „Trip“ in eine erweiterte musikalische Dimension.
Die unzähligen, einer spannungsgeladenen Stille folgenden Einsätze treffen stets die ihnen innewohnende Dynamik. Peter Hirsch gewährt den Motivfetzen und Klängen diese gerade hier so wichtige Zeit der Stille, sich in die Köpfe und Ohren der Hörer zu winden und sich dort zu entladen, um nun eine Vielzahl von inneren Bildern und Momentaufnahmen heraufzubeschwören.
Dass gerade solch komplexe Musik von der Präzision und dem Können ihrer Interpreten lebt und nur so auf Verständnis und Verstehen hoffen kann, zeigt sich an dieser Aufnahme, die sich schon durch die Ersteinspielung des Roten Mantels wegweisend nennen darf.
 
Kathrin Feldmann