Robert Schumann
Complete Symphonies
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Ltg. Roger Norrington
Für einen Großteil der Feuilletons war der „Stuttgart Sound“ eine Offenbarung, für viele Mitglieder des in den letzten Jahren ordentlich geschrumpften Klangkörpers eine Qual. Auf alle Fälle ist er jetzt definitiv Geschichte. Auch die Pandemie war ein Grund für Roger Norringtons Entscheidung, am 18. November 2021 nach einem Auftritt mit der Royal Northern Sinfonia seine über 50-jährige Karriere zu beenden. Als Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart folgte er den Rossini-Experten Neville Marriner und Gianluigi Gelmetti.Nach der Fusion des Süddeutschen Rundfunks (SDR) mit dem Südwestfunk (SWF) wurde der klassische Klangkörper 1998 als Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR dem Südwestrundfunk zugeschlagen. Unmittelbar danach amtierte Norrington bis 2011.
Ungefähr zur Halbzeit dieser Periode entstanden in der Liederhalle Stuttgart die Live-Einspielungen der vier Sinfonien von Robert Schumann. Norrington war damals einer der Ersten, die für das romantische Repertoire des mittleren 19. Jahrhunderts die historisch informierte Aufführungspraxis anwandten. Er forderte einen Streicherklang ohne Vibrato, weil dieser nach Norringtons Verständnis entgegen den Aufführungs- und Hörgepflogenheiten des 20. Jahrhunderts vor 1900 die übliche Ausführungsform war. Tatsächlich ist es Ansichtssache, ob man bei Aufführungen von bis ca. 1860 entstandenen Orchesterwerken den utopischen Vorstellungen der Komponierenden oder – in Besetzung, Stimmung und Klang – den multiplen Realitäten der Entstehungszeit folgt. Denn erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde allmählich ein standardisierter Stellenplan für Konzert- und Theaterorchester üblich. Komponierende wussten um die Realitäten außerhalb von Konzerthochburgen wie Leipzig und Düsseldorf. Insofern haben die sinfonischen Werke Mendelssohn Bartholdys und Schumanns durchaus eine Schwellenposition zwischen „hohem“ und „pragmatischem“ Gestus.
Norringtons zügige Tempi in Kombination mit dem vibratolosen Streicherklang haben zur Folge, dass Erlebniswerte wie das Schwelgen und sonst emotionalisierende Klangverbindungen hier etwas nüchtern klingen. Dafür wird vor allem in der vierten Sinfonie deutlich, wie Schumann im Fluss kammermusikalische Inseln setzt. Der Stimmsatz ist auch in allen groß besetzten Stellen gut durchhörbar. Statt zielorientierter Steigerungen geht es Norrington um den Verlauf.
Einige Fortissimo-Stellen wirken aufgrund des fehlenden Streichervolumens etwas flach. Über weite Strecken gleicht dieser Zyklus einem Textvortrag, der auf die Betonung der Konsonanten mehr Wert legt als auf die variablen Schwingungen der Satzgebilde und Tonsilben. Schumann gerät dadurch nicht trockener und auch nicht weniger substanziell, aber etwas komplizierter. So zerklüftete Norrington die Legende vom Hochromantiker Schumann, indem er dessen Strukturarbeit und die Orientierung am Vorbild des zu Lebzeiten weitaus erfolgreicheren Mendelssohn herauskehrt. Keine so richtig großartige Einspielung, aber dafür eine mit Erkenntnisgewinn.
Roland Dippel