Brahms, Johannes
Complete Symphonies
Die vorliegende Liveaufnahme der vier Sinfonien von Johannes Brahms hatten Roger Norrington und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR bereits vor Jahren als DVD-Videofilm veröffentlicht. Nun erscheint die Audiospur der im Jahr 2005 aufgezeichneten Einspielung noch einmal aufs Neue auf SACD.
Von Anbeginn hatte Roger Norrington seine Arbeit mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester darauf ausgerichtet, die Erkenntnisse der Spieltechniken der historischen Aufführungspraxis auf das moderne Orchester zu übertragen. Norrington, der mit Ablauf der Saison 2010/11 seine Position als Chefdirigent des Stuttgarter SWR-Orchesters nach gut zwölf Jahren abgeben wird, ist ein leidenschaftlicher Verfechter des vibratolosen, reinen Tons, den die Ensembles nach den Ergebnissen seiner Forschung schließlich auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert gepflegt haben. In diesem Sinn nötigte er das Stuttgarter Orchester seinerzeit zur Umkehr und trimmte es konsequent auf eine geradlinige und intonationssaubere Klanggebung hin, und er erntete höchstes Lob mit seinem bereits legendär gewordenen Stuttgart Sound. Und natürlich befreit Norrington auch Brahms Sinfonien von all dem verschleiernden Vibrieren, das seit den 1940er Jahren um sich gegriffen hat.
Aber nicht nur die rein und klar fokussierte Klanggebung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart ist ein Pluspunkt der vorliegenden Einspielung, auch Norringtons an der historischen Aufführungspraxis orientiertes Herausarbeiten eines feinnervigen rhetorischen Gestus in der melodischen Stimmführung lässt manchen neuen Einblick in das Verständnis der Textur zu. So führt beispielsweise im Kopfsatz der 3. Sinfonie F‑Dur seine kleinteilig durchbrochene Aufgliederung des Stimmenverlaufs zu einer ungemein sprechenden Ausdruckszeichnung der einzelnen Figuren und ihrer ineinander verzahnten Kombinationen. Und auch andernorts wird Brahms musikalische Gedankenführung in gestalterischer Hinsicht überzeugend eingelöst: So weiß Norrington dem dritten Satz dieser Sinfonie all die übliche, meist recht zähflüssige Schwere zu nehmen und er kann mit seiner Auffassung von einzeln stehenden, feinsinnig austarierten und in sich deutlich begrenzten, dabei aber doch miteinander in enge Beziehung gebrachten Satzgliedern eine vormals ungeahnte Leichtigkeit mit ins Spiel bringen, die dem Blick auf die Gesamtheit der musikalischen Architektur und dem Gesamtverständnis der Anlage des Satzes sehr förderlich ist.
Rundum vorteilhaft ist auch zu bewerten, dass Norrington die Tradition der Sitzposition der Orchestermitglieder achtet: So befördert das Gegenüber von erster und zweiter Violine in nicht zu unterschätzendem Maße die Transparenz und die Durchsichtigkeit. Die solistischen Leistungen der Orchestermitglieder in der finalen, voller entwicklungsreicher Spannkraft modellierten Passacaglia der e‑Moll-Sinfonie beweisen eine ausdrucksstarke und individuelle Persönlichkeit. Eine solche eignet auch dem Violinsolo im zweiten Satz der 1. Sinfonie c‑Moll, doch hier hätte man sich im vibratolosen Umfeld der Orchesterstimmen letztlich auch das Violin-Solo um einiges weniger tremolierend gewünscht.
Thomas Bopp