Camille Saint-Saëns
Complete Sonatas
Mauro Tortorelli (Violine), Andrea Favalessa (Violoncello), Maria Semeraro, Akanè Makita, Angela Meluso (Klavier), Soloists of the Accademia di Santa Cecilia Rome
Die berühmte „kleine Melodie“ ging Marcel Proust nicht aus dem Kopf. In einem Pariser Salon verzauberte ihn der weich schattierte Violinpart im ersten Satz einer Sonate für Violine und Klavier. In seiner Suche nach der verlorenen Zeit schrieb er diesen Ausdruck innigster Zuneigung Swanns zu seiner begehrten Odette einem fiktiven Komponisten namens Vinteuil zu. Heute wissen wir, dass Proust vermutlich das Allegro agitato aus Camille Saint-Saëns’ erster Violinsonate in d-Moll von 1885 entzückte.
Dass Proust es in Glanzzeiten der Belle Époque in einem Salon vernahm, sollte zu keinem Fehlschluss verleiten. Salonmusik hat Saint-Saëns nie komponiert. Mit seinen sieben Sonaten hat der Gralshüter akademischer französischer Tradition Preziosen voller Esprit und Grazie hinterlassen. Die vier Streichersonaten haben die italienischen Pianistinnen Angela Meluso und Maria Semeraro mit dem mehrfach ausgezeichneten Geiger Mauro Tortorelli und dem Cellisten Andrea Favalessa aus den Reihen der Accademia di Santa Cecilia Rome eingespielt.
Zur editorischen Großtat wird die Kassette durch alle drei Holzbläser-Sonaten aus dem Todesjahr 1921. Wieder sind es Solisten dieses fabelhaften Orchesters in einer auch klanglich überzeugenden Aufnahme. Die Pianistin Akanè Makita ist ebenbürtige Mitgestalterin der Oboensonate mit Francesco Di Rosa, der Klarinettensonate mit Stefano Novelli und der Fagottsonate mit Francesco Bossone. Eine frühe Hornromanze mit Alessio Allegrini, eine noch frühere Flötenromanze mit Andrea Oliva und die quirlige Caprice sur des Airs Danois et Russes runden das Bläserspektrum ab.
Gut fünf Jahrzehnte umspannt die Werkschau. Der schwelgende, vor dramatischen Ausbrüchen nicht zurückschreckende Tonfall der frühen Streichersonaten weicht in den Bläsersonaten einer an Bach geschulten Klangarchitektur. Durch alle Aufnahmen zieht sich ein raffinierter Klangsensualismus.
Barockisierende Elemente weist schon die 1. Cellosonate in c-Moll von 1872 auf. In einer Sarabande und einem Choral im Andante ist das deutlich zu vernehmen. Es steht keineswegs quer zum expressiv geschärften Spiel der unmittelbar vor dem Cellokonzert entstandenen Sonate. Zart und galant mit schönen Haltetönen der Violine ist die bemerkenswert unforcierte Einspielung der ersten Violinsonate geraten. Die 1896 in Ägypten komponierte 2. Violinsonate in E-Dur mit übermütigem Scherzo weist nicht im Entferntesten die Orientalismen des fünften Klavierkonzerts auf. Die Klarinettensonate mit ihren Turbulenzen besticht durch ein inniges Lento. Die zum Repertoirestück arrivierte Fagottsonate beeindruckt mit gewaltigen Oktavsprüngen wie die kultiviert gespielte Oboensonate mit harfenähnlicher Klavierbegleitung.
Bernd Aulich


