Kurtág, György

Complete Choral Works

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler 93.174
erschienen in: das Orchester 10/2007 , Seite 84

Wie begegnet uns Schönheit in zeitgenössischer Musik? Bedeutet sie Klarheit, Gleichklang, Besinnung oder gar Wahrheit? Für den ungarischen Musikwissenschaftler István Balázs besteht kein Zweifel, dass gerade Schönheit den ästhetisch maßgeblichen Ausdruck im Werk György Kurtágs bildet.
Wesentliches Stilprinzip des Komponisten ist die aphoristische Verdichtung fragmentarischer Strukturen zu einem sinnfälligen Gesamtbild, wobei formal die zyklische Zusammenführung kleiner und kleinster Bausteine sowohl äußerlich als auch werkimmanent regelmäßig wiederkehrt. Kurtágs Kunst des Fundamentalen im vermeintlich Beiläufigen teilt sich in permanenter Beschränkung auf kleinste Gesten und minimale musikalische Äußerungen mit; einem einzelnen Ton oder einer Pause wird dasselbe substanzielle Gewicht zugestanden, welches andernorts ganze Werkzyklen zu tragen haben.
Diese Idee der bedeutungsvollen Aufgeladenheit des bloßen musikalischen Materials geht (auch) bei Kurtág auf die Beschäftigung mit serialistischem Komponieren zurück. Ebenso einflussreich für den rumänisch-ungarischen Komponisten waren Bartók und besonders der ebenfalls auf permanente substanzielle Konzentration zurückgehende Ansatz Weberns.
Der von Balázs ins Spiel gebrachte Schönheitsbegriff bei Kurtág lässt sich freilich nur schwer eindeutig festlegen; übrig bleibt jedenfalls eine Musik, die durch die Verbindung von elementarer Substanzialität und geradezu ethischer Vergeistigung in hohem Maße ergreift. Inwieweit dies gelingt, wird auch hier nicht ausschließlich aber maßgeblich von der Interpretation entschieden.
Zwei Neuerscheinungen legen in interessanter Variation davon Zeugnis ab. Zum einen nahmen sich das SWR Vokalensemble Stuttgart und das Ensemble Modern unter Marcus Creed Kurtágs „Complete Choral Works“ an. Die „Gesamteinspielung“ besteht allerdings nur aus drei Zyklen, da Kurtág bis jetzt nur drei Chorwerke komponiert hat. Eine weitere Produktion vom italienischen Label Stradivarius legt drei Instrumentalstücke vor, wovon Játékok vom Ehepaar Kurtág wie oft zuvor selbst gespielt wird und die übrigen Werke vom NDR Sinfonieorchester mit Zoltán Pesko interpretiert werden.
Indem die Aufnahmen verschiedene Gattungen wiedergeben, geben sie zusammen einen erschöpfenden Einblick in Kurtágs musikalische Denkweise. Das SWR Vokalensemble wird ein ums andere Mal an die praktischen Grenzen des Chorgesangs geführt, meistert jedoch die anspruchsvollen Partituren souverän und lässt die technische Durchdachtheit der Kompositionen schnell vergessen. Dem Umstand, dass Kurtág bei der „Überführung“ der russischen und ungarischen Verse in Musik nicht schematisch-illustrativ vorging, trägt Marcus Creed durch einen technisch disziplinierten und ganzheitlichen Interpretationsansatz Rechnung. Viele der isolierten Ausdrucksmomente fügen sich zu einem Gesamteindruck, der die poetischen Vorlagen nicht zugänglicher, aber emphatischer werden lässt. Ohne Begleitung des Worts wirken Kurtágs Instrumentalwerke zum Teil noch assoziativer als seine Chormusik.
Im Zentrum der zweiten Einspielung steht Játékok, ein in Kurtágs Gesamtschaffen bedeutender und umfangreicher Zyklus für Klavier zu zwei und vier Händen. Zahlreiche Miniaturen formen das Bild eines „Kindes, das sich, während es spielt, selbst vergisst“. In den steten Wechsel zwischen experimentellem Spiel und komplexem Strukturalismus sind zudem zahlreiche Hommagen und bemerkenswert schöne (!) Bach-Transkriptionen integriert. Als einzige Studioproduktion dieser CD führt Grabstein für Stephan für Gitarre und Instrumentalgruppen geradlinig Kurtágs Fusion minimalistischer Strukturen zu einem geschlossenen Block vor Augen. Sensibel und sicher agieren die Musiker unter Zoltán Peskó, der zusammen mit Elena Cásoli (Gitarre) eine äußerst introvertierte Interpretation findet.
Tobias Gebauer