Claudio Abbado

Lucerne Festival at Easter 2010, Prokofiev/Berg/Tchaikovsky

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Accentus Music ACC20101
erschienen in: das Orchester 05/2011 , Seite 77

Regelmäßig besucht Claudio Abbado Venezuela, um mit dem weltgrößten Jugendorchestersystem zu arbeiten. Die Musiker sind mit Enthu­siasmus bei der Sache, dankbar saugen sie die Erfahrungen des von ihnen liebevoll verehrten Maestros in sich auf. Die staatlich subventionierte Frühförderung hat ihnen europäische Komponisten wie Beethoven, Brahms oder Mahler ebenso nahe gebracht wie ihre eigenen lateinamerikanischen Rhythmen. Welch explosive Mischung entstehen kann, wenn die profunde und emotionale Lesart Abbados auf die mitreißende Spielfreude der jungen Venezolaner trifft, beweist die bei Accentus Music erschienene DVD mit Werken von Prokofjew, Berg und Tschaikowsky.
Im März 2010 brachte Abbado das „Orquesta Sinfónica Simón Bolívar ,B‘“– das bekannteste Aushängeschild von „El Sistema“ – zu einem bemerkenswerten Konzert nach Luzern. Die Skythische Suite zu Beginn ist eine wilde Heldengeschichte, mit der Sergej Prokofjew aus dem Schatten von Strawinskys Sacre du printemps heraustreten wollte. Abbado kanalisiert den Elan der Südamerikaner, führt die Holzbläser subtil durch leise Passagen, um kurz darauf neue Klanggewitter zu entfesseln. Die Kamera rückt den Zuschauer nahe an das Geschehen heran, zeigt die Gesten des Dirigenten auch aus dem Blickwinkel des Orchesters. In Abbados Mimik spiegeln sich gespannte Konzentration, absolute Hingabe an die Musik und spontane Freude über die Kommunikation mit dem Orchester.
Mit den Sinfonischen Stücken aus der Oper Lulu von Alban Berg geht es in die Zwölfton-Gefilde der Zweiten Wiener Schule. Mit ihrer flexiblen, ausdrucksstarken Sopranstimme verkörpert Anna Prohaska überzeugend die männermordende Verführerin, bis hin zu ihrem markerschütternden Todesschrei. Beeindruckend gelingt ihr die verstörende Koloraturarie „Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben“. Abbado und die Musiker zeigen, wie viel sinnliche Klangschönheit in der Arnold Schönberg gewidmeten Komposition steckt. Als Zugabe singt Prohaska ebenso souverän die Pamina-Arie „Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden“ aus Mozarts Zauberflöte.
Höhepunkt der Aufnahme ist jedoch Peter Tschaikowskys 6. Sinfonie h-Moll Pathétique, die durch Nuancenreichtum und emotionale Kraft besonders berührt. Schmerzliche Sehnsucht und gelöste Heiterkeit wechseln sich ab mit stürmischem Aufruhr. Die reichen Kontraste des Stücks werden von Abbado in perfekte Balance gebracht, bis zum herzzerreißenden Finalsatz Adagio lamentoso, in dem der Klang zum Schluss langsam erstirbt. Gustav Mahler ließ sich davon zu dem Ende seiner neunten Sinfonie inspirieren, die Abbado im Sommer 2010 mit dem Lucerne Festival Orchestra ebenfalls auf DVD aufnahm. Hier wie dort verharrt der Saal lange in gebannter Stille, bis behutsam Applaus einsetzt.
Mit dem Orquesta Sinfónica Simón Bolívar hatte der Mailänder Dirigent 2007 in Rom bereits Beethovens Tripelkonzert C-Dur aufgenommen. Die Luzerner DVD dokumentiert aber auf noch packendere Weise das intensive Zusammenspiel zwischen ihm und den jungen Lateinamerikanern.
Corina Kolbe