Carter, Elliott

Choral Works

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic 93.231
erschienen in: das Orchester 02/2010 , Seite 75

Mit seinen jüngsten Einspielungen eignete sich das SWR Vokalensemble Stuttgart ein Repertoire an, das in der Chormusikszene hierzulande bislang nahezu unbekannt. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Namen Charles Ives, Ralph Vaughan Williams und Elliott Carter eher in der Instrumentalmusik verortet sind, sei sie nun avantgardistisch oder klassizistisch. Dass die Stuttgarter unter Marcus Creed anschließend den fast schon gewohnten Preisregen geduldig entgegennahmen, untermauert nur ihre absolute Spitzenposition im hiesigen Musikleben und schraubt die Erwartungen mit jedem Projekt und jeder Einspielung höher. Über klangliche Vorlieben kann und wird man ewig streiten; aus technischer Sicht muss es für Dirigenten, Komponisten und Zuhörer jedoch ein Geschenk sein, dass dem Ensemble keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Jedenfalls lässt die aktuelle Auswahl aus dem weltlichen Chorwerk Carters wieder staunende Minen und beeindruckte Gemüter zurück, wenn der Chor nach halsbrecherisch explosivem Sprechgesang zu den reinsten harmonischen Gesten zurückfindet, als wäre das vorangegangene ein vergnüglicher Spaziergang.
In Carters Chormusik stehen nicht das Experiment oder neuartige Strukturen im Mittelpunkt. Die expressiven und rhythmisch-akkordisch stark durchdrungenen Stücke leben aus dem musikalischen Moment heraus, gehen nicht sofort ins Ohr, sondern überrollen den Zuhörer förmlich mit ihrer Mischung aus Folklore und komplexer Satztechnik – im Grunde der beste Anlass, die Aufnahme immer wieder hervorzunehmen und sich dieses bemerkenswerte Repertoire nach und nach zu erschließen. Aus der imposanten Werkauswahl ragt das gewaltige Stück “The Defense of Corinth” hervor. Das Werk schildert nach den bilderreichen Worten François Rabelais’, wie Diogenes während der Belagerung Korinths aus schlechtem Gewissen heraus, er könnte als Philosoph in dieser gefährlichen Lage für nutzlos erachtet werden, sein berühmtes Fass malträtiert. Die Szene ist eine epische Bravour-Nummer für Sprecher, Klavier und Männerchor, in der verschiedene Stile, Genres und Techniken vielfältig miteinander verwoben sind und von Marcus Creed meisterlich im Zaum gehalten werden. Für zu Herzen gehende Momente bleibt dabei kaum Zeit; und auch die Stücke für gemischten Chor strahlen trotz beruhigter Momente durch ständige Bewegung des musikalischen Satzes eine stete Rastlosigkeit aus, die latent immer an Arbeit statt an Genuss gemahnt. Dennoch lohnt sich die Mühe, nicht nur für das Vokalensemble, das für die Einspielung bereits wieder die ersten Preise einsammeln durfte (Deutsche Schallplattenkritik). Die Berührung mit diesem selten zu erlebenden Repertoire fasziniert trotz der rauen Oberfläche durch den ursprünglichen, wahrhaften Ton, den der Chor regsam und unverfälscht eingefangen hat.
Tobias Gebauer

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