Baur, Eva Gesine
Chopin oder die Sehnsucht
Eine Biographie
Mit viel Liebe zum Detail zeichnet Eva Gesine Baur eine lebendige, schillernde Künstlerpersönlichkeit: In Situationen des täglichen Lebens, des Unterrichtens und Komponierens, anhand von Auftritten in Salons, dem Widerstand gegen Konzerte und bei seinen zahllosen Umzügen und Reisen lässt Baur ein vielschichtiges Bild Chopins entstehen. Es zeigt einen dünnhäutigen, kränklichen Menschen und dessen Abneigung gegen das Laute, Derbe und Wilde, seine Vorliebe für geordnete Verhältnisse und seine Zerrissenheit unter der glatten Oberfläche mit vordergründigen Höflichkeiten und Schimpf hinter vorgehaltener Hand, mit Freundschaften für jeden Zweck.
Trotz des stattlichen Umfangs, der Fülle an Informationen und der sehr detaillierten Darstellung auch von Belangen, die die Person Chopins nur tangieren, gelingt Baur eine äußerst kurzweilige Lektüre. Möglicherweise bedingt durch die chronologische Erzählweise in kurzen Kapiteln braucht die Biografie eine Weile, um in Schwung zu kommen und den Leser ganz für sich einzunehmen. Insbesondere bedürfen die Schilderung der Anfänge als Pianist in den Warschauer Adelshäusern und Chopins Versuche, im Ausland bekannt zu werden, zunächst noch der Gewöhnung an Stil und Rhythmus des Erzählten.
Das Erzählen kann jedoch von Beginn an wörtlich genommen werden: Obwohl wissenschaftliche Quellenrecherche, -analyse und -auswertung das durchweg solide Fundament bilden, wirken die sprachlich und inhaltlich fein ziselierten Bilder nie pedantisch oder selbstverliebt. Flüssig wie in einem Roman präsentiert, sorgen sie stattdessen für Plastizität, die durch unzählige, mühelos eingeflochtene Originalzitate Chopins und verschiedenster Zeitzeugen noch erhöht wird. Die Ausflüge der Autorin ins Hypothetische liegen nicht immer nahe, doch sind sie grundsätzlich als Gedankenspiel kenntlich gemacht und gelegentlich auch anregend.
Spätestens bei der Schilderung der Pariser Zeit zieht Baur den Leser vollends in Bann. Chopins Leben mit George Sand, seine Freunde, Bekannten und Schüler, die vielfältigen und wechselvollen Beziehungen zu Persönlichkeiten wie Franz Liszt und Marie dAgoult, Heinrich Heine, Hector Berlioz und Auguste Franchomme oder Eugène Delacroix mit ihren Freundschaften und Zwistigkeiten, Eifersüchteleien, Zerwürfnissen und Versöhnungen lassen den Leser eintreten in das Leben der Pariser Salons. Doch bleibt Baur nicht beim Biografischen und den unmittelbaren sozialen Umständen stehen. Die geschichtlichen Hintergründe Polens und Frankreichs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben dem komplexen Bild Chopins einen größeren Rahmen.
Baur legt eine Biografie vor, auf die sich der Leser verlassen kann. Fundiert recherchiert und virtuos erzählt, hat sie mit Sicherheit jedem Chopin-Interessierten etwas zu bieten: Dem Einsteiger ebnet sie den Weg, dem Kenner eröffnet sie neue Seiten des Komponisten und seiner Zeit.
Astrid Bernicke