Quell, Michael

Chamber Music

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Neos 11046
erschienen in: das Orchester 09/2011 , Seite 82

Dies ist der Klang der geheimen, verborgenen Welt: drei Streicher (Violine, Viola, Violoncello) schieben einzelne Töne übereinander, lassen sie aufleuchten und wieder verschwinden, geben ihnen eine fahle Färbung. So entsteht ein Klangband, das sich allmählich das hohe Register erobert. Man­che Töne klingen jetzt flötenartig, besitzen fast schmerzhafte Intensität. Un­vermittelt fahren rasche Repetitionen dazwischen. Diese klanglichen Schraf­furen beherrschen bald die Szene und sausen durch den Raum, werden aber kurz darauf von feinen Linien in extrem hoher Lage abgelöst. So beginnt das Streichtrio le son d’un monde secret et couvert von Michael Quell, das auf einer 2010 produzierten CD mit weiteren Kammermusikwerken des
in Fulda lebenden Komponisten erschienen ist. Das Stück erweist sich als Musik von enormer Kraft und Intensität, der Komponist betrachtet Klänge gewissermaßen als reich strukturierte Wesen, deren Eigengesetzlichkeit es zu wahren gilt. „Charakteristisches Merkmal des Werks ist die Suche nach neuen Klangwelten, nach un-erhört neuen Wahr­neh­mungs­­räumen und damit untrennbar verbunden das konsequente Sich-Verweigern gegenüber jeglichem abgegriffenen Vokabular“, schreibt Quell in einem Kommentar zu dem 1994 entstandenen Werk. Der 1960 geborene Komponist zählt zu den Künstlern, die ihre Werke sehr bewusst reflektieren, was sich in Werkkommentaren mit einigem philosophischen Anspruch niederschlägt.
So versteht Quell le son d’un monde secret et couvert auch als Suche nach einer „quasi unendlichen Vielfalt an Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten“, als Versuch, sich vom „Ratiofaschismus der Funktionäre des Denkens“ zu befreien. Ob man dem folgt, bleibt jedem einzelnen Hörer selbst überlassen. Die Rhetorik des „konsequenten Verweigerns“ und der „un-erhörten Wahrnehmungsräume“ wirkt jedoch ihrerseits bereits
etwas angestaubt.
Nichtsdestotrotz zeitige diese Suche „faszinierende künstlerische Ergebnisse auch mit großem musikantischem Potenzial“, wie Ernst Helmuth Flammer im Beiheft schreibt. Etwa in den „(vier)(aggegrat)-Zuständen“ für Klavier mit dem Titel Anisotropie. Hier lässt Quell zwei Klangsphären variantenreich aufeinandertreffen: den des „normalen“ Klaviertons in Gestalt weit gespreizter Figurationen oder dissonanter Akkorde, und den des mit Plektrum auf den Saiten gespielter Töne, einzeln oder als Glissandi. Der Pianist Akiko Okabe realisiert das mit stupender Treffsicherheit.
In ähnlicher Weise spielt Quell verschiedene Dichte- und Intensitätsgrade in Anamorphosis II (Polymorphia) für größer besetztes Kammerensemble durch. Im ersten (von zehn) Teilen wird das Klangmaterial in punktuellen Aktionen gleichsam vorgestellt, im weiteren Verlauf erlebt man komplexer werdende Strukturen, aber auch deren Reduzierung bis hin zum Verschwinden ins Geräuschhafte. Das spannende Stück erfährt durch das Ensemble Aventure eine fabelhaft präzise und schlüssige Realisierung. Am Ende implodiert die Musik in einem wabernden Klavierakkord, für Flammer ein „schwarzes Loch“. Weitere Werke auf der CD:
Ekstare für Streichtrio, Oboe und Flöte, temps et couleurs I für Flöte und Gitarre sowie Achronon für Akkordeon und Gitarre.
Mathias Nofze