Neruda, Franz Xaver
Cello Concertos 1-5
Leopold Mozart war kein Einzelfall. Die Vita des mährischen Organisten Joseph Neruda weist eine ähnliche Dramaturgie auf: Beseelt von dem Wunsch, seinen begabten Kindern beste Karrierechancen zu bieten und natürlich auch selbst vom Wunderkind-Ruhm zu profitieren, zog der 37-jährige Neruda im Jahr 1844 mitsamt fünfköpfiger Kinderschar nach Wien. Die Rechnung ging auf, alle fünf wurden tüchtige Musiker, mit denen sich der ambitionierte Vater in den Folgejahren während ausgedehnter Konzertreisen durch ganz Europa hören ließ. Doch bereits hier endet die Parallele zur Mozart-Familie: Wir befinden uns im bürgerlichen Zeitalter des 19. Jahrhunderts, und möglicherweise ging der alte Neruda die Sache entspannter an als Leopold Mozart. Vier der fünf Neruda-Kinder einer der Söhne starb in jungen Jahren nabelten sich offenbar stressfrei von väterlicher Protektion ab und starteten alsbald ihre erfolgreichen Profi-Karrieren.
Zwei Nerudas wurden europäische Zelebritäten: Wilma Norman-Neruda, eine der berühmtesten Geigerinnen der Zeit, sowie ihr jüngerer Bruder Franz Xaver (1843-1915). Auch er hatte zunächst das Geigenspiel erlernt, sich dann jedoch autodidaktisch zum Cellisten umgeschult. Im Anschluss an eine Skandinavienreise ließ sich Neruda 1863 in Kopenhagen nieder, erhielt eine Cellisten-Stelle in der Königlichen Kapelle und blieb, von Intermezzi in England und Russland abgesehen, der dänischen Hauptstadt bis zu seinem Lebensende treu. Als Gründer eines Streichquartetts, als Dirigent, Klavierlehrer und Komponist entwickelte er sich zur hochgeschätzten Institution im Kopenhagener Musikleben und weit darüber hinaus.
Die bemerkenswerte Originalität der Cellokonzerte Nerudas zeigt sich auf mehreren Ebenen: Formal entsprechen die zwischen 15 und 18 Minuten Spieldauer umfassenden Werke dem Typus des Konzertstücks, doch weist die quasi-einsätzige Gesamtform variierende Binnengestaltungs-Modelle vom ausgedehnten Einzelsatz bis zu latenter Dreisätzigkeit auf.
Nicht minder originell ist Nerudas gelegentliche Vorliebe für modale Motivik und eigentümlich archaisierende harmonische Wendungen. Auch in der Behandlung des Soloinstruments geht Neruda eigene Wege: Seine Cellistik scheint geprägt von Leichtigkeit und Eleganz der Geige, in puncto Geläufigkeit stellen seine Cellokonzerte teilweise beträchtliche Anforderungen.
Diese werden brillant gemeistert von Beate Altenburg, die mit schlankem Ton, perfekter Technik und musikalischem Nuancenreichtum Nerudas bis dato ungehobene Schätze zum Ereignis werden lässt. Nicht ungelobt bleiben soll auch der von der Solistin verfasste, aufschlussreiche Booklet-Text. Das Dessauer Orchester unter seinem Chef Golo Berg begleitet zuverlässig und einfühlsam. Eine überaus lohnende Entdeckung!
Gerhard Anders