Celibidache. The Berlin Recordings 1945-1957
12 CDs + Bonus-CD
Die Berliner Aufnahmen Sergiu Celibidaches sind ein Dokument ersten Ranges, was Produktivität und Kompetenz des Musiklebens keine zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anbelangt. Anscheinend war nicht nur die musikalische Leistungskraft ungebrochen, sondern auch das aufnahmetechnische Niveau der Zeit vor der Kapitulation erhalten geblieben. Ein Foto des informativen Booklets zeigt die Instrumentalisten und den Dirigenten in Frack oder schwarzen Anzügen mit blank geputzten Schuhen vor einem völlig eingestürzten Orgelprospekt, musizierend zwischen Trümmern, die den gesamten Boden bedecken.
Trümmer-Musik, die keine ist: Das zeigt schon die allererste Aufnahme, Rimsky-Korsakows Russische Ostern, am 1. Juli 1945 im Haus des Rundfunks aufgenommen. Eine Darstellung voller Bewegungsdrang. Der Vitalismus, den der damals 33-jährige Celibidache entfacht, prägt fast alle der 45 Aufnahmen, die sich grob aufteilen lassen gemäß den Intentionen der alliierten Kultur-Offiziere: 13 dem deutschen, sieben dem amerikanischen, zehn dem französischen, neun dem russischen und zwei dem eng-
lischen Repertoire zugehörige Kompositionen. Die meisten Aufnahmen stammen von 1945 und 1946 (21) sowie 1950 (10).
Zentrales Studio war das sowjetisch kontrollierte Haus des Rundfunks, später (nach der Berlin-Blockade 1948) kam die Jesus-Christus-Kirche in Dahlem dazu. Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Berliner Philharmoniker sind die Klangkörper, womit die Edition zusammen mit den bei Audite veröffentlichten Aufnahmen des RIAS-Symphonie-Orchesters die gesamte dirigentische Aktivität Celibidaches in Berlin zeigt.
Der Dirigent als junger Wilder, oft mächtig zugreifend das ist ein zentraler Eindruck. Rhythmisch treibend, dicht und gewichtig in romantischen Ausdruckshaltungen: eine extrovertierte Haltung, die eher sanguinisch, denn dräuend oder aggressiv wirkt. Fließende tradierte Artikulationsweisen sind ungebrochen, wenngleich differenziert und gestalt-profiliert. Der Klang ist dicht und fest und jederzeit in seinen einzelnen Elementen präsent.
Was die Edition über das Thema Celibidache hinaus wertvoll macht, sind echte Repertoire-Gewinne, denn der Dirigent setzte mehrfach Werke aufs Programm, die bis heute rar sind. Rudi Stephan, hier mit der brennend und ekstatisch gegebenen Musik für Orchester, gehört dazu ebenso wie Günter Raphael mit seiner 4. Sinfonie oder Heinz Thiessen mit seinem Vorspiel zu einem Revolutionsdrama. Gleiches gilt für Werke von Chavez, Barber, Piston, Diamond und MacDowell, die dank Celibidaches ebenso schwebender und strömender wie pointierter und erratischer Diktion
gewinnen. Dem deutschen Repertoire (Mendelssohns und Brahms Vierte, Haydns Sinfonie Nr. 94 und 104 sowie Beethovens Leonore 3) widerfahren entschiedene, nicht Mittelwege beschreitende Darstellungen.
Nicht zuletzt enthält die Edition solistische Beifänge von zum Teil höchster Qualität (Erna Berger, Margarete Klose oder Tibor de Machula).
Bernhard Uske


