Ruzicka, Peter
Celan Symphonie/Erinnerung – Spuren für Klarinette und Orchester
Von Jugend an der Lyrik Paul Celans verfallen, die sich nach des Dichters eigenem Wort am Rande ihrer selbst behauptete, entwickelte der Musikmanager, Komponist und Essayist Peter Ruzicka ein nachgerade traumatisches Verhältnis zu dem jüdischen, in der Bukowina geborenen Dichter. Nicht lange, bevor dieser sich 1970 in der Seine ertränkte, hatte er noch im Hamburger Amerikahaus, verloren unter einer Leselampe sitzend, tonlos vor sich hingelesen. Ruzicka, der sich 1968/69 komponierend an die Todesfuge gewagt hatte, traf den Lyriker, dessen Eltern im Konzentrationslager umkamen, kurz vor dessen Freitod in Paris. Wie gebannt umkreist sein kompositorisches Sinnen und Trachten seither die zerschlagenen Gesänge des Dichters, die randlosen Inseln seiner deutungsschweren Metaphernwelt ein berührungsscheues Antasten, das an die Fühler einer Schnecke erinnert.
Nach langer Inkubationszeit konnte Ruzicka als Komponist ähnlich wie Gustav Mahler auf die Spielzeitpausen angewiesen 1998/99 sein Musiktheater in sieben Entwürfen Celan vollenden, das 2001 in der Dresdener Semperoper herauskam. Einen Vorgeschmack, besser gesagt eine orchestrale Essenz, hatte er schon im Sommer 1998 unter dem Titel
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dem Schleswig-Holstein Musik Festival verehrt.
Eine tönende Celan-Biografie hatten der Komponist und sein Librettist Peter Mussbach niemals im Sinn. Vielmehr schwebte ihnen eine Art virtueller Erinnerungsraum vor, worin sich Begebenheiten aus dem Dichterleben und Gegenwartsbilder verschränken. Dieser Idee entspricht die spiralförmige Dramaturgie der Oper: Sieben musikalische Entwürfe, mehrheitlich in kurze Szenen unterteilt, spiegeln unterschiedliche Zeitschichten ineinander. In verschachtelten Prozessen aus Veränderung und Wiederkehr entfaltet sich die (in den
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eingekapselte) musikalische Grundsubstanz, ohne ihr Innerstes preiszugeben.
Da sich Ruzickas Tonkunst trotz ihrer Wesensnähe zu Gustav Mahler, Alban Berg und Bernd Alois Zimmermann selbst im Musiktheater erzählkarg verhält, scheint sie für ein opernsinfonisches Resumee wenig herzugeben. Dergleichen hatte er allerdings auch nicht im Sinn, als er sich zwei Jahre nach der Dresdener Uraufführung an eine Celan Symphonie wagte, wozu ihm ein Kompositionsauftrag des NDR gelegen kam. Er gliederte sie in zehn Abschnitte, von denen die ersten sechs direkt oder indirekt im I. Entwurf wurzeln (mithin in
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). Der siebte und achte Teil gehen auf lyrische Stellen im V. und VI. Entwurf zurück. Die beiden Schlussteile der Symphonie entstammen dem letzten Entwurf. Der Finalabschnitt beginnt mit einem orchestralen Gehirnschlag. Das Werk verfließt in einem unendlichen Canto, der die Aura des Adagios aus Mahlers Zehnter aufnimmt. Im zweiten, vierten, fünften, siebten, neunten und zehnten Teil zitieren Mezzosopran und Bariton die entsprechenden Operndialoge, die angesichts der Dichterfigur, der sie gelten, in ihrer textlichen Banalität einigermaßen befremdlich wirken.
Erinnerung Spuren für Klarinette und Orchester auch dieser Titel weist auf Flüchtiges, sich Verflüchtigendes. Aufkeimen und Wegknicken, Tasten, Innehalten. Ungewissheit, sobald der Musik Fremdes zustößt: O-Töne einer Menschenmenge, drei Takte aus Mozarts Klarinettenquintett wie von fern her. Impulse der Klarinette verebben. Komponiertes Ausatmen. Erinnerungsspuren, vom Verschwinden bedroht. Das NDR Sinfonieorchester (hier mit der fantastischen Soloklarinettistin Sharon Kam) folgt den Intentionen des dirigierenden Komponisten in beiden Stücken mit Hingabe.
Lutz Lesle