Wersin, Michael

CD-Führer Klassik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2003
erschienen in: das Orchester 07-08/2004 , Seite 72

Eine Aufnahme zu L’Amore dei tre Re von Italo Montemezzi oder der Klaviersonate e-Moll von Leopold Godowsky, zu Moralia von Jacobus Gallus oder zum ersten Klavierquintett von Ernst von Dohnányi gesucht? Mit dem neuen CD-Führer Klassik kann geholfen werden. Zu all diesen vom Repertoire eher exotischen Werken findet sich ein Hinweis auf eine Einspielung. Doch einen Tipp für eine lohnenswerte Aufnahme beispielsweise des beethovenschen Violinkonzerts oder zur Schottischen Sinfonie von Mendelssohn Bartholdy verzeichnet das schmale Büchlein nicht.
Und das ist auch schon die Krux dieser Veröffentlichung: Für wen ist sie gedacht? Für den professionellen Musikhörer, den ambitionierten Laien, den sachverständigen Kulturbürger? Aus dem Vorwort erschließt sich die Zielgruppe nicht. Doch hieraus würden sich die Kriterien für die Auswahl der Werke ableiten. So durchzieht der Charakter des Zufälligen und Beliebigen diesen ganzen CD-Führer. Zwar erläutert der Autor, dass er sowohl bekannte wie unbekannte Werke „exemplarisch“ in seinen Überblick aufgenommen habe. Doch erwartet man von einem solchen CD-Führer nicht bestimmte Minimalstandards, eine Behandlung des klassisch-romantischen Repertoires im Zentrum, mit gewichtigen Blöcken für die Musik davor und auch danach? Doch Mozart kommt denn mit dem Requiem und je einem Werk der Sinfonien, der Klavierkonzerte, der Opern und der Kammermusik vor. Der Rest: Fehlanzeige! Nicht viel anders bei den weiteren Klassikern. Von Haydns Sinfonien werden die frühen Jahreszeiten-Sinfonien besprochen, von denjenigen Beethovens die Pastorale. Die vom Autor „Inselbildung“ genannte Auswahl bei sehr bekannten Komponisten scheint mir suspekt.
Zur problematischen Werkauswahl kommt die einseitige Berücksichtigung von älteren Aufnahmen und von bestimmten Interpretationen hinzu: Der Autor gesteht in der Einleitung, dass er eine Vorliebe für historische Aufführungspraxis habe, doch das darf sicherlich nicht dazu führen, dass Einspielungen anderer Interpretationsrichtungen oft ausgeblendet werden. Man mag über Helmuth Rilling unterschiedlicher Meinung sein, doch wenn es um Aufnahmen von Bach geht, muss er zumindest erwähnt werden. CDs von Schuberts Klaviermusik zu empfehlen, ohne Alfred Brendel zu erwähnen – undenkbar.
Viele weitere Beispiele ließen sich anführen – die Breite des Spektrums an Interpretationen wird in diesem CD-Führer nicht abgebildet. Floskelhaft und kursorisch werden die Einspielungen be-schrieben. Viel Platz für Besprechungen wird zudem dadurch verschenkt, dass Inhaltsangaben von Opern und biografische Beigaben etliche Seiten füllen: CD-Führer, Opernführer und Musikgeschichte zugleich zu sein – das ist bislang noch keinem Buch gelungen.
Und so sehr die Idee zu begrüßen ist, einen preiswerten Ratgeber für den Kauf von Klassik-Tonträgern zu präsentieren: Mit dieser Veröffentlichung ist kein großer Wurf gelungen.
 
Wolfgang Birtel