Rebling, Kathinka (Hg.)

Carl Flesch

Die Hohe Schule des Fingersatzes. Reprint

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Ries & Erler, Berlin 2005/2013
erschienen in: das Orchester 12/2013 , Seite 69

Diese Neuauflage gibt Gelegenheit, der Herausgeberin Ehre zu erweisen: Die Musikwissenschaftlerin und Violinpädagogin Kathinka Rebling, in Den Haag geboren, in Moskau nach dem Violinstudium zur Dr. phil. promoviert, wirkt seit DDR-Zeiten in Berlin. Ihr Vater Eberhard Rebling (1912-2008), 1964 Taufpate und über viele Jahre hinweg Rektor der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“, und ihre Mutter, die jüdische Sängerin und Tänzerin Lin Jaldati (1912-1988), bewahrten in der Kriegszeit in den Niederlanden zahlreiche jüdische Flüchtlinge vor der Deportation. Dafür erhielt Eberhard Rebling im Jahr 2007 von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“.
In ihrer vierzigseitigen Einleitung stellt Kathinka Rebling den 1873 geborenen Carl Flesch, der als Kind deutsch-jüdischer Eltern dem gleichen böhmisch-ungarischen „Dreiländereck“ entstammt wie Joseph Joachim (1831-1907) und Leopold Auer (1845-1930), in den Kontext der dynamischen Entwicklung des Violinspiels im 20. Jahrhundert. Fesselnd sind ihre mit Zitaten belegten Darstellungen des Streits um die Joachim-Nachfolge an der Berliner Musikhochschule und der Intrigen um den angeblichen „jüdischen“ Violinklang. Carl Flesch, der Deutsche unter den großen Violinpädagogen, verließ das Land 1935. Das von Berta Flesch auf der Schreibmaschine getippte Manuskript der Hohen Schule des Fingersatzes und die 1753 handgeschriebenen Notenbeispiele blieben zurück, als das Ehepaar Flesch 1942 nach Fürsprache von Wilhelm Furtwängler das holländische Exil verlassen und nach Ungarn ausreisen konnte – der vorletzten Station einer von Verhaftung und Deportation bedrohten Odyssee durch Europa. Im April 1943 gelang die Übersiedlung in die Schweiz. Flesch verband sie mit der Absicht, „eine neue Generation junger Schweizer Geiger hervorzubringen, die über die in diesem Lande vorherrschende gesunde Mittelstufe hinausreichen sollte“ – dazu zählte auch Aida Stucki, die spätere Lehrerin von Anne-Sophie Mutter.
Nach Fleschs plötzlichem Tod am 15. November 1944 erschien das Werk in italienischer und englischer Übersetzung. 1986 führte Kathinka Reblings Spurensuche zum in London lebenden Sohn Carl F. Flesch, der ihr das Manuskript ohne Umstände überließ. 1994 konnte es erstmals gedruckt werden. Seit 2005 erscheint das Werk im Berliner Musikverlag Ries & Erler, der in den 1920er Jahren Fleschs Kunst des Violinspiels herausgegeben hatte.
Keine der Autoritäten hinterließ ein systematisch-wissenschaftliches Werk solchen Ranges. Durch die übersichtliche Gliederung und das nach Komponisten geordnete Register der Notenbeispiele – darunter viele aus dem frühen 20. Jahrhundert – ist es in der pädagogischen und künstlerischen Arbeit jederzeit nutzbar. Auch für die stilistische Analyse: Das Kapitel „Fingersatz als Ausdrucksmittel“ enthält allein 120 Beispiele zum Thema Portamento. Ein Beweis für Aktualität in einer Zeit wachsenden Interesses an historisch informierter Aufführungspraxis.
Reinhard Seiffert