Paul Hindemith
Cardillac
Juliane Banse, Markus Eiche, Torsten Kerl, Jan-Hendrik Rootering, Prager Philharmonischer Chor, Münchner Rundfunkorchester, Ltg. Stefan Soltész
Nach drei Einaktern, die zu Beginn der 1920er Jahre dazu beitrugen, dass Hindemith an die Spitze der kompositorischen Avantgarde in Deutschland rückte, suchte er lange nach einem Librettisten und einem geeigneten Textbuch für eine abendfüllende Oper. Mit Ferdinand Lion fand er Mitte 1925 einen Schweizer Schriftsteller, der die im 17. Jahrhundert spielende Erzählung Das Fräulein von Scuderi von E. T. A. Hoffmann auf ein dichtes Kriminalstück von 90 Minuten kondensierte.
Der Goldschmied Cardillac ist besessen von unauflöslicher Liebe zu seinen kostbaren Schmuckstücken und mordet seine Käufer, um sie zurückzuholen. Weil sie ihm sogar wichtiger als seine eigene Tochter sind, versucht er, ihren Geliebten zu töten, nachdem dieser eine Kette bei ihm erworben hat. Am Ende entlarvt ihn der Goldhändler als den wahren Täter der Mordserie, die Paris in Aufruhr versetzt. Cardillac wird von der wütenden Menge niedergeschlagen und stirbt; die Oper endet nachdenklich und leise. Sie wurde nach ihrer Dresdner Uraufführung 1926 rasch eines der erfolgreichsten Bühnenwerke der Zeit, damals oft gespielt, auch heute noch eine der am häufigsten auf internationalen Bühnen zu hörenden Hindemith-Opern und mehrfach eingespielt.
Eine packende Live-Aufnahme aus dem Jahr 2013 wurde jetzt als CD publiziert, ein würdiges Denkmal für den vielfach gefeierten Operndirigenten Stefan Soltész. Mit dem Münchner Rundfunkorchester arbeitet Soltész Hindemiths kontrastreiche Instrumentierungen luzide heraus. Ein rundweg souveränes Solistenensemble steht ihm zur Verfügung: Markus Eiche überzeugt als Cardillac mit warm-metallenem „goldenen“ Bariton, der auf lyrische Passagen unvermittelt Ausbrüche voll energischer Verve, besessen vom Wahn, folgen lassen kann. Juliane Banse präsentiert als Tochter einen sehr warmen, mächtigen Sopranklang, der in tieferer Lage vielleicht etwas zu vibratoreich daherkommt, gleichwohl mühelos und klar in höchste Höhen steigt. Mit Torsten Kerl steht der Offizier als ihr Geliebter mit strahlendem Tenor zur Seite. Oliver Ringelhahns Tenor-Transparenz in der Rolle des Kavaliers, Michaela Selinger als Dame mit ausgewogenem, hellem und schlankem Sopran, Kay Stiefermanns entschiedener Bass in der Rolle des Führers der Prévoté und Jan-Hendrik Rootering als Goldhändler mit unterwürfigem Bass komplettieren das Ensemble. Dazu fügt sich bruchlos ein achter Protagonist auf der Bühne ein: der Prager Philharmonische Chor, der seine Funktion als „Öffentlichkeit“ wahrnimmt – aufgeregt und mit Lynchgedanken bei der Entdeckung einer weiteren Mordtat, ehrfürchtig jubelnd bei der ersten Begegnung mit dem berühmten Goldschmied, am Ende hartnäckig insistierend in der Befragung von Cardillac. Erhellend ist das Booklet mit einer Inhaltsbeschreibung und einem Beitrag zum Themenkomplex „Hindemiths Cardillac und die Musik der Moderne“.
Susanne Schaal-Gotthardt