Janácek, Leo
Capriccio für Klavier linker Hand und Bläserensemble
Urtext, hg. von Leo Faltus und Jarmila Procházková
Der Wiener Pianist Otakar Hollmann, der im Ersten Weltkrieg die rechte Hand verloren hatte, bat zahlreiche namhafte Komponisten seiner Zeit um Werke für die eigene Aufführung. Leo Janácek erfüllte den Wunsch des Pianisten nach wiederholten hartnäckigen Anfragen mit einem Kammermusikwerk in außergewöhnlicher Besetzung. 1926, auf dem Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens, widmete er ihm das Capriccio für Klavier linker Hand mit einem Bläserensemble aus Flöte (auch Piccolo), zwei Trompeten, drei Posaunen und Tenortuba. Dabei ist der Titel Capriccio fast etwas irreführend, denn als Grundton herrscht hier weniger überschwängliche Heiterkeit als subtiler Schalk.
Bereits 2001 gab die Musikwissenschaftlerin Jarmila Procházková, die sich seit über 25 Jahren der eingehenden Untersuchung genau dieses Werkes widmet, in Zusammenarbeit mit dem Janácek-Experten Leo Faltus bei Bärenreiter im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe eine Partitur mit Stimmenmaterial heraus; nun erschien im selben Verlag als Urtextausgabe eine Neuauflage. Der Notentext blieb im Wesentlichen unverändert. Ebenso wie in der Vorgänger-Ausgabe werden Otakar Hollmanns (von Janácek abgesegnete) Retuschen der Klavierstimme abgedruckt, wobei es sich hauptsächlich um Oktavverdopplungen sowie Harmonisierungen einstimmiger Passagen handelt, wodurch der Klavierklang im Gesamtsatz etwas hervorgehoben wird. Herausragendes Novum der Neuausgabe ist die erstmalige Edition einer vom Komponisten legitimierten alternativen Hornstimme als Ersatz für die Tenortuba.
Das viersätzige Werk mit einer Spieldauer von 20 Minuten vereinigt die typischen Charakteristika der reifen Schaffensphase des berühmtesten tschechischen Tonsetzers: Die auf den ersten Blick rhapsodisch wirkende Form wird in den Ecksätzen durch Elemente des Sonatensatzes gegliedert, folkloristisch anmutende Themen präsentieren sich in immer neuer Gestalt. Den Pianisten der Uraufführung ließ Janác?ek wissen, dass er weniger Solist sei als Primus inter Pares: Denken Sie nicht, dass es sich bei dem Klavier um den Solopart des Konzertes handelt. Jede Stimme ist gleichwertig. Wenn Ihnen das nicht passt, geben Sie mir die Partitur zurück. So sind denn auch die Bläserstimmen mehr als lediglich schlichte Begleitung. Es ist überliefert, dass der Komponist schelmische Freude empfand, als ihm zugetragen wurde, dass die Posaunisten der ehrwürdigen Philharmonie ihre technisch anspruchsvollen Partien zu Hause üben mussten. Lauter Bosheiten habe er da komponiert, gab Janácek selbst zu und riet zu Ventilposaunen. So fordert er den Musikern eben die trotzige Verbissenheit ab, die der Auftraggeber der Komposition, nachdem er im Krieg eine Hand verloren hatte, in so beeindruckender Weise entwickelt hatte. Ihm und seinem kompromisslosen Festhalten am künstlerischen Wirken, gegen alle inneren und äußeren Widerstände, setzte Janácek in seinem Capriccio ein klingendes Denkmal.
Bernd Distelkamp