Stravinsky, Igor

Canticum Sacrum/Agon/Requiem Canticles

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic CD 93.226
erschienen in: das Orchester 02/2009 , Seite 64

Michael Gielen präsentiert auf dieser hochinteressanten Einspielung mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dem er lange Zeit als Chefdirigent vorstand, drei der wichtigsten Werke aus Strawinskys später, dodekafoner Schaffenperiode: Canticum Sacrum, das Ballett Agon sowie die Requiem Canticles, das letzte größere Opus des Komponisten. Die beiden geistlichen Kompositionen sind typisch für die immer asketischer werdende Tonsprache des alten Strawinsky, zeigen aber doch deutliche Unterschiede: Das Canticum gibt sich ehern statuarisch, wie ein antikes Ritual, die Requiem-Gesänge schlagen hingegen konziliantere und diffizilere Töne an, persönlichere auch, die Instrumentierung weist vielfältigere Facetten auf und die Harmonik ist der Tonalität näher als in den meisten anderen von Strawinskys Spätwerken.
Insbesondere in diesen beiden Werken beeindruckt Gielens Einspielung zutiefst. Er entgeht der Gefahr, die Musik allzu maskenhaft klingen zu lassen, verhilft, bei aller Sachlichkeit der Tonsprache, der spirituellen Dimension der Musik zu ihrem Recht. Unterstützt wird er dabei vom bestens präparierten SWR Vokalensemble Stuttgart sowie einem Klangbild, das eine gewisse mit leichtem Hall versehene sakrale Wärme mit äußerster Durchhörbarkeit vereinigt. Die Gleichzeitigkeit von gesungenen und gesprochen Worten im „Libera me“ der Requiem Canticles ist optimal realisiert; der sprechende Chor und die Solisten verschmelzen ineinander, ohne ihre jeweilige Identität zu verlieren.
Im Ballett Agon (1954-57), das den Beginn seiner seriellen Periode markiert, unternimmt Strawinsky eine höchst ungewöhnliche Reise durch die Jahrhunderte: Er beginnt in einer Art Neorenaissancestil und geht dann allmählich zur Zwölftontechnik über, bevor er in der Coda auf die archaische Harmonik zurückgreift. Agon ist kompositorisch wie klanglich eines der faszinierendsten Werke Strawinskys und hätte es verdient, häufiger aufgeführt zu werden.
Zumindest auf dem Tonträgermarkt ist das Stück jedoch mehrfach vertreten und hier steht Gielens Einspielung nicht konkurrenzlos da. Wohl ist sie, wie bei diesem Dirigenten nicht anders zu erwarten, äußerst souverän strukturiert. Was gelegentlich ein wenig fehlt, ist die adäquate Abbildung der zum Teil sehr ungewöhnlichen Klangfarbenkombinationen und der zum Teil gleichzeitig erklingenden stilistischen Ebenen. Dass Agon auch Humor besitzt, wenn auch einen äußerst skurrilen, und manchmal regelrecht swingt, davon ist bei Gielen, bei all seiner unbestreitbaren Meisterschaft, letztlich zu wenig zu spüren. Wer sich für diese Dimensionen des Werks interessiert, der greife zur Einspielung von Michael Tilson Thomas und dem London Symphony Orchestra (RCA).
Thomas Schulz