Vasks, Peteris / Johannes Brahms
Canti drammatici
Klavierquartette
Als Beweggrund seines Komponierens nennt Peteris Vasks den leidvollen Weg des lettischen Volks durch die Jahrhunderte, seinen Befreiungskampf im Winter 1990/91, den die Streichersymphonie “Balsis” (Stimmen, 1991) bezeugt, den ökologischen Raubbau und die soziale Not im Schatten des postkommunistischen Turbo-Kapitalismus. Seine Musik, die gelegentlich auf Schostakowitsch anspielt, pendelt zwischen Wehmut und spiritueller Emphase, Stille und Aufruhr, Gebet und Groteske, Himmel und Hölle.
Als Paradigma seines Stils mag die erwähnte Streichersymphonie gelten. Seither klingen sie immer wieder auf: die moll-grundierten Tonflächen, die liedhaft ausgespannten Sexten, das mähliche Auffüllen leerer Quint- und Oktavräume, das Umschlagen diatonischer Klarheit in kakofone Zustände, bevor die Musik in kosmische Sphären entschwebt.
Aus ähnlichem Tonstoff, doch eher improvisiert wirkend als komponiert, ist sein Quartett für Violine, Viola, Violoncello und Klavier, 2000/01 für ein Kammermusikfestival im irischen Cork geschaffen. Es besteht aus sechs Sätzen, die dramaturgisch so angelegt sind, dass der nächstfolgende jedesmal der Peripetie des vorangehenden entspringt. Bis auf das Preludio, das sich zaghaft aus einem diatonischen Quintmotiv entwickelt und langsam zum Fortissimo anschwillt. Der folgende, Danze überschriebene Satz reißt ein volksliednahes Motiv in einen Tanzstrudel, bevor die Canti drammatici wie in einer Novelle den Wendepunkt des Stücks herbeiführen: Fragen ohne Antworten (Vasks), die das nach Schumanns weisem Meister Raro benannte Ensemble, bestehend aus Diana Ketler (Klavier), Alexander Sitkovetsky (Violine), Razvan Popovici (Viola) und Bernhard Naoki Hedenborg (Violoncello), entsprechend offen lässt.
Einer Kette von Ostinato-Variationen, aus drei komplementären Themen gefügt (Quasi una passacaglia), folgt ein sarkastischer Marsch, dessen Thema an Bachs Musikalisches Opfer erinnert. Er mündet in eine aufrauschende Toccata und fällt am Ende in ein schwarzes Loch. Der 5. Satz Canto principale ist ein klavierbegleiteter Streichergesang: instrumentales Gotteslob, Preislied der Liebe. Im Postludio schließlich, dem Gipfel der melodischen Emphase entwachsend, scheint der Magister ludi der Welt abhanden zu kommen.
Nach der Pause: Brahms Klavierquartett Nr. 3 in c-Moll op. 60. Vom quasi improvisando zur Baukunst entwickelnder Variation ein musikalischer Quantensprung. Wobei auch Brahms sich Gefühle, Seelenschmerz, gar Verzweiflung vom Herzen schrieb. Vermutlich stand er am Rande des Selbstmords, als er Mitte der 1850er Jahre in der ersten Werkfassung seine Werther-Leidenschaft zu Clara Schumann niederkämpfte (vgl. seinen Hinweis auf den Mann im blauen Frack und gelber Weste). Der Kopfsatz beginnt mit dem seltsamsten Thema, das Brahms je erschuf. Das Andante: eine einzige Liebeserklärung, dem göttlich musizierenden Ensemble Raro spürbar zu Herzen gehend. Wie das ganze, stimmungslabile, stellenweise schroffe Bekenntniswerk.
Lutz Lesle