Bernstein, Leonard

Candide, erzählt von Loriot

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Capriccio 71056
erschienen in: das Orchester 04/2006 , Seite 92

Von Leonard Bernsteins Candide kennt man meist nur die Ouvertüre: ein beliebtes, virtuoses Stück, das von Orchestern gerne als Konzerteröffnung gewählt wird. Die 1956 komponierte Oper – oder soll man eher von Musical oder Operette sprechen? – findet sich nur selten auf den Spielplänen, die Gesamtaufnahmen des Werks kann man an einer Hand abzählen. Größtes Hindernis für eine szenische Umsetzung ist sicherlich das ausufernde Libretto. Loriot kommentiert dies in seinem Kleinen Opernführer: „Candide, das Musical der Herren Voltaire und Bernstein, ist das einzige seiner Art, dessen genaue Inhaltsangabe – rasch vorgetragen – ebenso lange dauert wie das Musical selbst.“
Die Geschichte vom unehelichen Candide, der voller Optimismus die „beste aller möglichen Welten“ (Gottfried Wilhelm von Leibniz) bereist, dabei aber von einer Katastrophe in die andere schlittert, entwickelt nicht nur bei Voltaire viel absurde Komik, auch Bernsteins Musik ist energiegeladen und humorvoll. Die Patchwork-Ouvertüre, in der sich die wichtigsten Themen der Oper tummeln, hat Tempo und Witz, Nummern wie „Autodafé“ und „I am easily assimilated“ sind abgründige Parodien, bei denen einem das Lachen auch im Halse stecken bleiben kann.
Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin und der Ernst Senff Chor Berlin unter der Leitung von David Stahl widmen sich der vielschichtigen Partitur mit Eleganz und Können. Ganz so lärmend und zupackend wie bei Leonard Bernsteins eigener Gesamtaufnahme aus dem Jahr 1989 gerät die Interpretation des erstklassigen Berliner Orchesters nicht. Sie kommt auf leichteren Füßen daher – aber das ist kein Mangel. Eleganz und Raffinesse zeichnet sie aus.
Die Solisten dieser Live-Aufnahme gestalten ihre Partien nicht alle so schwerelos. Jerry Hadley, der den Candide bereits bei Bernsteins Aufnahme gesungen hatte, wirkt etwas angestrengt, besonders in den hohen Lagen zeigt der amerikanische Tenor zu wenig Geschmeidigkeit. Sylvia Kokes Koloraturen bei Cunigundes „Glitter and be gay“ sind eindrucksvoll, wenn auch sehr hart in der Linienführung, Marjana Lipovsek (Old Lady) versieht ihre parodistische Partie mit viel Schmelz und falschem Pathos.
Das Ereignis dieser Aufnahme ist aber Loriot, der die Oper mit erklärenden Texten versehen hat und diese selbst vorträgt. Der Humorist nimmt den Hörer bei der Hand und führt ihn mit herrlicher Ironie durch die Absurditäten der Vorlage: „Dann geschieht etwas, das schiffbrüchigen Schwimmern relativ selten widerfährt: Candide und sein Hammel werden aufgenommen von einem Floß, auf dem sich fünf entthronte Monarchen befinden, darun-ter ein seekranker.“ Am Ende („Make our garden grow“) geht die verworrene Geschichte doch noch gut aus. Candide macht seiner im Laufe der Oper mehrfach verstorbenen Cunigunde einen Heiratsantrag und träumt von naturbelassenem Gemüse, einem Reihenhaus und einem Fernseher. „Ja“, antwortet Cunigunde in Loriots Textfassung, „dann hat das Leben endlich einen Sinn.“
Georg Rudiger