Tarr, Irmtraud

Bühnenangst bei Musikern

Differentielle integrative Behandlung von Bühnenangst (DIBB), Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag, Reihe Psychologie, Bd. 6

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Tectum, Marburg 2008
erschienen in: das Orchester 11/2008 , Seite 58

Irmgard Tarr macht es dem Leser nicht leicht. Hätte dieses Buch mit Seite 185 begonnen, hätte es eine uneingeschränkt positive Besprechung verdient. Tarr schildert ihr drei Stufen umfassendes musik-, körper- und psychotherapeutisches Konzept zur Behandlung von Bühnenangst klar und praxisnah. Zielgruppe sind Musikstudenten und Angehörige von Musikerberufen, die wegen ausgeprägter Bühnenangst bereits unter Vermeidungsverhalten oder anderen ungünstigen Anpassungen leiden.
Die erste Behandlungsstufe dient der Stabilisierung und Vertrauensbildung. Bemerkenswert ist hier, dass die Patienten durch gemeinsames Bewegen, gemeinsames musikalisches Improvisieren und durch stützende körperliche Kontakte mit der Therapeutin innere Blockaden abbauen und Vertrauen aufbauen. Hier trägt der musiktherapeutische und musikpraktische Hintergrund der Verfasserin wesentlich zum therapeutischen Gelingen bei. Andere Techniken umfassen körperbetonte Entspannungsverfahren und Ausdauersportarten. In dieser ersten Stufe geht es auch darum, dass ein neuer, angstbefreiter Zugang zum Instrument durch kreative Klangübungen und durch Improvisation hergestellt wird. Für jeden Patienten trifft die Therapeutin auf Grundlage ihrer präzisen biografischen Exploration und ihrer feinen Analyse eine Auswahl aus der großen Zahl der möglichen Methoden. Das „integrative“ Programm von DIBB wird hier eingelöst: Man könnte diese erste Stufe des Konzepts als künstlerische, körperbetonte und emotional-ganzheitliche Therapie bezeichnen.
Die zweite Stufe gilt der direkten Arbeit am individuellen Angstphänomen. Hier werden traumatisierende Bühnenerfahrungen aufgearbeitet, nacherlebt und umgedeutet und ehemals bedrohliche Situationen mit neuen, positiven Emotionen und Körpergefühlen belegt. In der dritten Stufe erfolgt die begleitende Neuorientierung, wobei hier insbesondere Fähigkeiten der Bühnenpräsenz entwickelt werden. Mut zum Ausdruck, Freude an der Rolle des Musikers, Musik als emotionale Kommunikation sind hier die wesentlichen Lernziele.
Ergänzt werden die Ausführungen zum Therapiekonzept durch eindrucksvolle Fallschilderungen und eine ausführliche Dokumentation des Verlaufs einer DIBB. Die sensible Ausgestaltung der geschilderten Therapie zeigt die herausragende Kompetenz und Kreativität der Verfasserin, macht aber auch deutlich, dass DIBB stark an ihre Person und ihre spezifischen Qualifikationen gebunden ist. Insofern ist der vorgelegte Band kein Lehrbuch der DIBB, sondern die Dokumentation einer in den Händen der Autorin sicher sehr wertvollen Behandlungsform von Bühnenangst bei Musikern.
Kommen wir zu den ersten 185 Seiten. Gedacht sind diese vier Kapitel als theoretische Herleitung der DIBB. Hier ist Tarr an ihrem Bedürfnis nach Vollständigkeit gescheitert. Es resultiert ein unzureichend strukturierter und nahezu unverständlicher Kurzabriss der Philosophie, Anthropologie, Emotionspsychologie, Psychotherapie und Musiktherapie der vergangenen 150 Jahre. Ein solches Vorhaben muss in einer Art von halb gegartem Name-Dropping enden. Trotz der Abstriche ein interessantes Konzept, dem ich eine weite Verbreitung wünsche.
Eckart Altenmüller