Kagel, Mauricio

Broken Chords

für großes Orchester, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Peters, Frankfurt/Main 2002
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 81

Mauricio Kagel ist ein Komponist, der nach provokativen und humorvollen Traditionsbrüchen der frühen Jahre in der letzten Zeit immer häufiger die Größe hat, auch mit den eigenen experimentellen Traditionen zu brechen. Zumindest scheinen sich die Akzente verlagert zu haben.
Mit Broken Chords für Orchester vollendete Kagel z.B. im Jahr 2001 ein Werk, das ganz ohne die Elemente des instrumentalen Theaters auskommt. Sein kompositorisches Thema ist hier eines der absoluten Musik. Es geht um die intensive Gestaltung puristischer Klangzusammenhänge, die Auffächerung von Harmonien und deren Beleuchtung durch die Farben des Orchesters. „Töne eines Akkordes sind wie tönende Rippen, und die Schatten dieser Klänge die Farben selbst“, so Mauricio Kagel.
Unter weitgehendem Verzicht auf außergewöhnliche Spieltechniken und völlig ohne Schlaginstrumente (in seinem Werkkommentar bittet der Komponist die entsprechenden Kollegen ausdrücklich um Verzeihung…) kleidet Kagel seinen Akkordfundus in eine Fülle reichen, gleichwohl brüchigen Wohllauts: zwanzig Minuten im altmeisterlichen Klangbad!
Das Konzert für Soloflöte, Harfe, Schlagzeug und Streicher tönt wesentlich vitaler. Es wurde 2002 vollendet und ist wie Broken Chords ein Auftrag der Kunststiftung NRW. Beide Werke wurden von den Duisburger Philharmonikern uraufgeführt. Das Konzert, Kagels erstes echtes Instrumentalkonzert nach jahrzehntelangem Hadern mit der Gattung, wurde durch Michael Faust, langjähriger Soloflötist der WDR-Sinfoniker, angeregt. Die Solostimme entstand im engen Austausch mit ihm. Anders als im typischen Virtuosenkonzert des 19. Jahrhunderts stehen bei Kagel der
Soloflöte (auch Piccolo und Altflöte) mit Harfe und Schlagzeug zwei ebenbürtige Partner gegenüber, die mehrfach gemeinsam in aparten Triosituationen konzertieren. Und auch die Streicher übernehmen nicht bloß eine untergeordnete Begleitfunktion, delikate Klänge gibt’s bei ihnen im Übermaß: Ob Flautandos (in einem Flötenkonzert selbtverständlich!), Flageoletts und con sordino-Spiel – Kagel malt mit der ganzen Palette. Das Schlagzeug, jetzt wieder dabei, zaubert gleichfalls: mit pianistischen Fingersätzen auf den Congas, explodierenden Beckenklängen, silbrigem Glitzern von mehreren Triangeln sowie Tremoloflächen von Marimba- und Vibrafon.
Und da ist sie auch wieder, die Kagel’sche Ironie: Im einsätzigen, ca. 27 Minuten langen Werk gibt es für den Solisten zwar genug Gelegenheit zu virtuosem Finger- und Lippenspiel, Zeit für Multiphonics und schrille Pfiffe, es fehlt aber eine explizit virtuose Kadenz. Stattdessen nur zwei „Antikadenzen“ der sparsamen Art und am Ende ein Schlusspfiff!
Seit den Uraufführungen wurden beide Werke bereits mehrfach von Orchestern erster Güte nachgespielt. Diese bei zeitgenössischer Musik ansonsten leider nur selten zu beobachtende äußerst erfreuliche Tatsache liegt im Falle Kagels vor allem an der hohen kompositorischen Substanz seiner Werke. Hinzukommt, dass es ihm mit seiner Musik immer wieder aufs Neue gelingt, Interpreten (Solisten und Orchester) und Hörer gleichermaßen vor interessante und lohnenswerte Herausforderungen zu stellen.
Eine Musik, die gut für Hirn, Hand und Ohr ist – was will man mehr!
Stephan Froleyks