Christina von Richthofen

Bonn: Die Faszination des Ungreifbaren

Konzertreihe „Im Spiegel“: Autor und DJ Wladimir Kaminer zu Gast beim Beethoven Orchester Bonn

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 58

„Der menschliche Geist ist keine Waffe“, sagte Wladimir Kaminer in der Sonntagsmatinee am 19. März im Bonner Opernhaus. Im Rahmen der Reihe „Im Spiegel“ des Beethoven Orchesters Bonn stand keine ganz einfache Aufgabe für die Ausführenden an: Es ging um eine Werkbetrachtung mit anschließender Aufführung der Sinfonie Nr. 10 von Dmitrij Schostakowitsch.
Schon lange vor dem Krieg in der Ukraine war das Programm terminiert und in den Spielplan aufgenommen worden – die aktuelle Situation machte es umso relevanter. Dass es eine humorvolle Werkbetrachtung wurde, lag an Wladimir Kaminers scharfsinnigen Beobachtungen, die manch strengen Vertreter musikhistorischer Analyse irritiert hätten. „Was wollte der Künstler uns damit sagen?“ sei doch vor allem bei Schostakowitsch eine Frage, die zu nichts führe und so denke er persönlich beim zweiten Satz auch eher an den Klimawandel als an ein Porträt Stalins. Die Sinfonie jenseits des Zusammenhangs zu hören, sei die bessere Idee als die Einordnung in ihre Zeit, denn „Schostakowitsch kann man nicht trauen, und dazu hat er selbst beigetragen“, so der deutsche Schriftsteller sowjetischer Herkunft. Schostakowitsch mache zwar die „Unfähigkeit, das Böse zu bekämpfen“, hörbar, entziehe sich aber einer endgültigen Interpretation, meint Kaminer über die Musik des Komponisten, der die meiste Zeit seines Lebens unter großem politischen Druck stand. Im lockeren Gespräch mit dem bestens aufgelegten Chefdirigenten Dirk Kaftan spiegelt Kaminer uns unsere vertrauten Lehrmeinungen zurück und gibt uns zu verstehen: „Die russische Seele ist eine deutsche Erfindung“ und vielleicht ist es gerade das Ungreifbare, das uns fasziniert. Das Gespräch zwischen Kaftan und Kaminer war ein intelligenter Dialog, der einem gewichtigen Thema angenehme Leichtigkeit verlieh.

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