Lühe, Barbara von der

Blick nach Europa

Im Reich der Mitte boomt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Klassik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 10/2006 , Seite 12
Schätzungsweise 80 Millionen junge Chinesen unter 18 Jahren spielen ein Instrument. Das sind fast so viele Menschen, wie die Bundesrepublik Deutschland Einwohner hat. Nicht nur Chinas Wirtschaft, auch das Kulturleben des Landes entwickelt sich in einem rasanten Tempo. Die Liebe der Chinesen zur europäischen Klassik lässt die heimische Orchesterlandschaft neu erblühen. Orchester in China: Beijing, Shanghai, Hong Kong Musikpädagogik und Musikstudium in China

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Auszug:

Orchester auf Expansionskurs

Barbara von der Lühe im Gespräch mit Edo de Waart, künstlerischer Direktor und Chefdirigent des Hong Kong Philharmonic Orchestra
 

Edo de Waart ist seit September 2004 künstlerischer Direktor und Chefdirigent des Hong Kong Philharmonic Orchestra (HKPO). Geboren 1941 in den Niederlanden, studierte er Oboe und Klavier am Sweelinck Konservatorium in Amsterdam und trat 1963 als Oboist in das Concertgebouw Orkest ein. Nachdem er 1964 den Dimitri-Mitropoulos-Dirigentenwettbewerb in New York gewonnen hatte, begann er seine Dirigentenlaufbahn als Assistent von Leonard Bernstein, die er in Amsterdam als Assistent von Bernhard Haitink fortsetzte. Nach beruflichen Stationen in verschiedenen Orchestern und als Dirigent und künstlerischer Direktor des Philharmonischen Orchesters Rotterdam war er von 1977 bis 1985 künstlerischer Direktor des San Francisco Symphony Orchestra, von 1986 bis 1995 des Minnesota Orchestra, seit 1989 ist er zudem Leiter des niederländischen Radio Filharmonisch Orkest. Von 1995 bis 2003 war er Chefdirigent des Sydney Symphony Orchestra.
 

Wie fassten Sie den Entschluss, künstlerischer Direktor des Hong Kong Philharmonic Orchestra zu werden?

Ich erhielt das Angebot aus Hong Kong, man suchte eine Persönlichkeit, um eines der bedeutendsten Orchester in Asien aufzubauen. Diese Aufgabe hat mich gereizt: Ich bin sehr interessiert an der asiatischen Kultur.

Sie haben Ihre erste Spielzeit mit der konzertanten Aufführung der „Salome“ von Richard Strauss begonnen, in dieser Spielzeit folgte die Aufführung der „Elektra“. Was bedeutet Strauss für Sie?

Strauss bedeutet mir so viel, dass eine Saison ohne Strauss für mich undenkbar wäre. Als ich 19 Jahre alt war, nahm ich in Salzburg als Beobachter an einem Sommerkurs von Dean Dixon für Dirigieren am Mozarteum teil, bevor ich mit meinem Dirigierstudium begann. Damals sah ich die Proben zum Rosenkavalier – und ich war verzaubert, denn ich erlebte eine völlig neue Qualität des Musizierens.

Warum haben Sie „Elektra“ ausgewählt?

Das hatte zunächst praktische Gründe: Ich hatte Salome schon aufgeführt und diese beiden Stücke gehören zusammen. Dies ist eine gute Gelegenheit, ein substanzielles Verständnis für Strauss in Hong Kong zu wecken. Ich versuche nun dasselbe zu tun mit Beethoven und Mahler. Beethoven ist die Basis für das ganze sinfonische Repertoire. Um Beethovens neun Sinfonien wirklich gut spielen zu können, ist natürlich viel Arbeit nötig. Es gibt wenige Orchester, die das können. Daher ist das eine wichtige Aufgabe für das Hong Kong Philharmonic Orchestra.

Welche Ziele haben Sie mit dem Orchester?

Es sind gute Musiker, sie spielen sehr gut. Die beste Sektion sind die Streicher. Einige von ihnen wurden in Deutschland ausgebildet, in den Bläser-Sektionen haben wir viele „expats“* aus Großbritannien, USA, Australien. Das Orchester hat nur 89 Musiker, das ist von der Größe her ein regionales Orchester. Eine Stadt wie Hong Kong sollte aber ein Orchester haben wie in Hamburg oder San Francisco. Mein Ziel ist, dass wir in vier bis fünf Jahren ein Orchester von 104 oder 108 Musikern haben werden. Denn in einer Stadt wie Hong Kong gibt es keinen „Free-Lance-Market“, wir müssen die Musiker aus Australien, aus Kuala Lumpur oder den USA holen, es ist wirklich sehr schwierig. Das muss sich ändern. Und bevor ich berühmte Gastdirigenten einlade, möchte ich erst drei Spielzeiten mit dem Orchester arbeiten und einen entsprechenden Standard erreichen. Aber es wird bald soweit sein. Es gibt jetzt schon Konzertabende mit dem Hong Kong Philharmonic Orchestra – wenn Sie die Augen schließen, fühlen Sie sich wie in Hamburg, Amsterdam oder San Francisco.

Wie oft arbeiten Sie mit Ihrem Orchester in Hong Kong?

16 bis 18 Wochen im Jahr.

Wie hoch sind die Gehälter?

Die liegen bei etwa 40 000 US-Dollar (rund 31 000 Euro) im Jahr. In Deutschland sind die Gehälter viel höher als in Hong Kong oder in England. Wir versuchen da mitzuhalten und unsere Gehälter zu erhöhen, denn Hong Kong ist sehr teuer. Viele der Orchestermitglieder unterrichten auch.

Wann werden Sie auf Tournee gehen?

Im vierten oder fünften Jahr. Man muss Ziele setzen: 2008 oder 2009 wollen wir soweit sein, dass wir nach Amerika und nach Europa gehen werden.

Werden Sie in Festland-China konzertieren?

Ja, wir werden jedes Jahr in China spielen, nächstes Jahr zum Beispiel in Guangzhou und in Shanghai. Wir haben schon in Shanghai gespielt, das war eine sehr gute Erfahrung, das Publikum dort ist hervorragend.

Wie sieht es mit dem Musikernachwuchs in Hong Kong aus?

Es ist noch so, dass die jungen Musiker vor allem eine Solo-Karriere anstreben, mehr noch als im Westen. Tausende von Kindern üben acht Stunden täglich Klavier, jeder möchte wie Lang Lang oder Yundi Li spielen. Die jungen Violinisten lernen alle Tschaikowskys Violinkonzert.

Wie ist das Verständnis der Musiker aus asiatischen Ländern für westliche Musik?

Bei den Auditions, die ich veranstalte, kommen 80 Prozent der Musiker aus Asien. Normalerweise bin ich zwei Tage in London für Europa, dann gehe ich nach New York und Chicago. Im ersten Jahr wusste ich nicht, was mich erwartet. Es waren eine Menge Leute aus China und aus Hongkong da, die ihre Studien in London oder in Chicago beendeten. Sie waren sehr oft viel musikalischer als die Leute aus den USA. Ich denke, die Musiksprache ist so universell, dass sie diese musikalischen Fähigkeiten erwerben können, auch ohne in Paris, Wien, Amsterdam oder Berlin aufgewachsen zu sein. Aber ich mache mir Gedanken darüber, wie das Verständnis für das Spielen im Orchester geweckt werden kann. Man muss einfach klar machen, wie viel Spaß es machen kann, im Orchester zu spielen.

Was ist noch zu tun?

Es gibt keine gute Konzerthalle in Hong Kong. Daher kämpfen wir jetzt um eine Konzerthalle. Das Cultural Center in Kowloon zum Beispiel könnte den Ansprüchen genügen – wenn es die richtige Ausstattung hätte. Das Geld ist da, denn Hong Kong ist eine unglaublich reiche Stadt.

Wie steht es mit dem Publikum?

Der Anteil des einheimischen Publikums ist sehr hoch, darunter sind viele junge Leute, junge Familien mit ihren Kindern. Und in den Schulen hat der Musik- und Kunstunterricht einen hohen Stellenwert. Die Neugierde auf die westliche Kultur ist sehr groß. Jeder liebt romantische Musik, Brahms, Mahler, Tschaikowsky.

Welche Musik hören die jungen Leute gerne?

Auch die romantische Musik, und sie lieben bekannte Solisten. Ich möchte aber, dass die Leute nicht nur wegen der Stars in die Konzerte gehen. Wir möchten, dass sie kommen, um das Orchester spielen zu hören.

Spielt das Orchester auch chinesische Musik?

Ja, wir vergeben Kompositionsaufträge, wir haben chinesische Programme, wir versuchen jedes Jahr eine Uraufführung zu spielen. Nächstes Jahr veranstalten wir „Canto-Pop“-Konzerte. Mit diesen Konzerten möchte ich deutlich machen, dass das Hong Kong Philharmonic Orchestra für die Menschen in Hong Kong da ist, nicht nur für die wenigen tausend Leute, die Beethoven hören.