Jäger, Hermann
Bleibt stehn! Ich laß noch einen ziehn für euch!
Dessauer Theateranekdoten und Geschichten. Zeichnungen von Heinz Rammelt
Die Welt der Oper, des Theaters, des Balletts, des Orchesters ist voll von witzigen, komischen, manchmal auch peinlichen Situationen und Vorfällen. Was auf, unter, über, hinter und neben der Bühne alles schief gehen kann und tatsächlich schief geht, war schon immer der Stoff für Anekdoten und Legenden. Wie sehr aber diese kleinen Geschichten Identität stiften und ein kollektives Bewusstsein von Künstlern und Publikum bilden und prägen können, zeigt der bereits zweite Anekdotenband aus dem Dessauer Gamus-Verlag.
Nach dem ersten Taschenbuchband mit dem aussagekräftigen Titel Aber wenn der mir doch aufn Busen latscht! (Ausruf einer Souffleuse, die unerwarteten Besuch an ihrem Arbeitsplatz bekam) hat der Autor nach nur einem Jahr einen neuen Band mit weiteren Begebenheiten aus den vergangenen hundert Jahren des Dessauer Theatergeschichte niedergeschrieben. Dabei konnte er auf rund sechzig Zuträger zurückgreifen, denen nach der Lektüre des ersten Bandes noch weitere Geschichten in Erinnerung gekommen waren.
Selbst wer kein alter Dessauer ist, findet seine Freude an diesem Buch: Sänger und Schauspieler, die ihren Text vergessen haben und munter extemporieren; technische Abläufe, die nicht so funktionieren wie geprobt; missgünstige Kollegen und Scherzbolde, die den Bühnenablauf mit kleinen Überraschungen garnieren. Ein Beispiel, welches auch für den Titel Pate stand: Die Opernpremiere war zu Ende. Es gab lang anhaltenden Beifall. Das Ensemble hatte sich mehrmals bei geöffnetem Vorhang verbeugt. Nun war der Vorhang geschlossen und der Chor stand unschlüssig auf der Bühne, während die Solisten vor den Vorhang traten. Die Frage war: Geht der Vorhang noch mal auf oder können wir in die Garderobe gehen? Da kam Intendant Willy Bodenstein eilig auf die Bühne und rief seinen Chorleuten zu: Bleibt stehn! Ich laß noch einen ziehn für euch! Kein Bereich bleibt ausgespart: Ballett, Bibliothek, Bühnenbildner, Chor, Damenschneiderei, Inspizient, Intendanz, Komparserie, Kritiker, Maskenbildner usw.
Eine weitere Kostprobe unter der Überschrift Falsch deklariert: Bevor der Vater von Werner Müller an das Dessauer Theater kam, war er in Augsburg engagiert. Dort lernte er auch Heinz Röttger kennen, den späteren Generalmusikdirektor in Dessau. Damals war er noch Korrepetitor. Im Rheingold sang Vater Müller einen der beiden Riesen, die das Gold der Nibelungen zum Rhein hinunter zu schleppen hatten. Zur Premiere hatte es die Requisite besonders gut gemeint und neue Säcke beschafft. Als nun die beiden Riesen ihre Säcke schulterten, ertönte Gelächter aus dem Parkett und von den Rängen, das einer Operette würdig gewesen wäre. Auf den Säcken war groß und deutlich zu lesen: ,Stadtheater Augsburg.
Einige Illustrationen von Heinz Rammelt, viele aus der Entstehungszeit der Anekdoten, geben dem Buch einen sehr authentischen und intimen Flair. Insgesamt ein kurzweiliges, manchmal hintergründiges und lesenswertes Buch, das sich auch hervorragend zum Verschenken eignet.
Gerald Mertens