Tewinkel, Christiane
Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?
Eine musikalische Betriebsanleitung, mit Zeichnungen von Rattelschneck
Eine musikalische Betriebsanleitung: Der Untertitel verheißt zunächst nichts Gutes, lässt er einen doch dieses Buch in die Gruppe jener zahllosen pseudowitzigen Konzertführer und musikalischen Witzbändchen einordnen, die in großen Stapeln neben der Kasse auf Käufer lauern. Doch die Titelfrage, die lässt einen dann nicht los; denn genau das hat man sich eben auch schon oft gefragt: Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile? Und beim ersten Durchblättern erkennt man, dass Christiane Tewinkel auch sonst genau die richtigen Fragen stellt womöglich die wichtigste Voraussetzung für das Verfassen eines jeden Textes: Muss ich das Programmheft lesen?, Warum sind Konzerte so teuer? Was verdienen Musiker?, Warum hört sich Neue Musik oft so anstrengend an?
Selbst professionelle Musikerinnen und Musiker sowie passionierte Konzertgänger werden viele der insgesamt 24 Fragen, die Tewinkel zusammengetragen hat, nicht ohne weiteres und aus dem Stegreif zufrieden stellend beantworten können rühren sie doch oftmals an den Kern unseres abendländischen Musikverständnisses. Weshalb dürfen wir denn nicht zwischen den Sätzen klatschen? Durfte man es denn nicht früher auch? Und: Sollte man es nicht eigentlich dürfen? Christiane Tewinkel zeigt, dass diese Fragen nicht banal und die Antworten keineswegs selbstverständlich sind. Sie nimmt die musikalischen Laien, an die sich dieses Buch in erster Linie richtet, behutsam an die Hand und führt sie mit einer kräftigen Portion Humor durch das Gestrüpp, das die Rituale unseres Konzertwesens und unserer Musikkultur vor so manchem schüchternen Neuling zu errichten im Stande sind. (Im Übrigen hat die Autorin ihr Buch durchgehend in einer geschlechtsneutralen Form verfasst, indem sie konsequent weibliche und männliche Formen gleichberechtigt verwendet. Dass es ihr gelingt, den Lesefluss dabei nicht zu stören, ist ein Beweis dafür, dass gleichberechtigte Sprache auch in belletristischer Schreibweise sehr wohl möglich ist.)
Dass sie dabei sowohl ihre Leserinnen und Leser als auch die Sache selbst sehr ernst nimmt, dürfte das größte Verdienst der Autorin sein. Ihre Erläuterungen verbleiben nicht im Floskelhaften, sondern stoßen oftmals in Tiefen des Verständnisses vor, die man sich auch in so mancher staubtrockenen Fachpublikation wünschen würde. So verbleibt z. B. die Antwort auf die Titelfrage eben nicht im kumpelhaft anbiedernden Eingeständnis, dass wir uns doch alle manchmal im Konzert langweilen. Sondern Tewinkel beginnt, nachdem sie die Schwellenangst der Neulinge abgebaut hat, ihre Leserschaft zu fordern, sie fordert ein Arbeiten an sich selbst ein; sie bietet Erklärungen an, womit die Langeweile im Konzertsaal zu tun haben könnte, doch auch, was man selbst unternehmen könnte, um dagegen anzugehen.
Ihre klare Sprache beschönigt nichts: Der Glücksfall vermiedener Langeweile, die erfüllte, gedoppelte Zeit, ist dagegen selten. Er wiegt aber alles andere auf. Und zwar für immer. Oder doch zumindest bis zum nächsten Mal. In einem solcherart nicht langweiligen Konzert (das man vielleicht alle halbe Jahre einmal erlebt) wird so musiziert, daß Sie in eine ganz ruhige, klarsichtige Stimmung hineinkommen, daß Sie genießen, was Sie hören, und am Ende denken: ,Wie, schon vorbei? [
] Das ist ein kleines Wunder. Und dafür geht man ins Konzert. Kann man es schöner sagen?
Rüdiger Behschnitt