Hermand, Jost

Beethoven

Werk und Wirkung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2003
erschienen in: das Orchester 03/2004 , Seite 78

Wenn der in den USA tätige Germanist und Kulturwissenschaftler Jost Hermand sich mit einer Monografie über Beethoven wieder der Musik zuwendet, so darf man von ihm durchaus auch Wind gegen die Wissenschaftskonventionen des „Alten Europa“ erwarten. In der Tat ist Hermands neuestes Buch eine sanfte Kriegserklärung gegen die besonders in Deutschland beliebte und verbreitete „Autonomieästhetik“, welche der Musik die Fähigkeit, über das Werk selbst hinausgehendes Gedankliches oder gar Gesellschaftlich-Politisches auszudrücken, mehr oder weniger vehement abstreitet. „Papiertapeten“ seien die formalistischen Analysen, wettert Hermand mit Kant gegen die Autonomie-Adepten und hält ihnen weitere große Namen entgegen: „Plunder“ (Rousseau), „leeres Geklingel“ (Gottsched) und „nichtssagender Zeitvertreib“ (Sulzer) sei alle Musik, die nicht an inhaltlichem Ausdruck festgemacht werde.
Kein Zweifel: Wenn Beethoven den letzten Satz seines Quartetts op. 135 mit „Der schwer gefasste Entschluߓ überschreibt und die beiden Hauptthemen mit „Muß es sein?“ und „Es muß sein!“ textiert, so ruft er jeden Interpreten dazu auf, die Frage nach dem Sinn zu stellen. Dies in „hermetische Unbestimmtheit“ zu verweisen, ist eine Ausflucht, die Hermand nicht gelten lässt. Wohin Beethovens Denken, auch sein musikalisches zielt, entnimmt Hermand – neben anderen Quellen – einem Eintrag Franz Grillparzers in Beethovens Konversationshefte: „Dem Musiker kann doch die Zensur nichts anhaben, selbst wenn sie wüsste, was Sie bei Ihrer Musik denken.“ Demzufolge sei Beethovens Spätwerk, so Hermand, weit gehend als Auflehnung gegen das autoritäre Regime Metternichs zu verstehen, und zwar nicht nur in Großwerken wir der Neunten, sondern auch in Kammermusikwerken wie der Sonate op. 111 oder dem Quartett op. 135. Logisch daraus folgernd interpretiert Hermand Beethovens „Verstummen“, die Schaffenskrise 1815-1820, nicht wie bisher als Ausdruck des Kampfs um den Neffen Karl, sondern als Verzweiflung über das endgültig erscheinende Scheitern der politischen Aufklärung im Wiener Kongress.
Wenn Hermand Beethovens Frühwerk mit dem Geist der Französischen Revolution in Verbindung bringt und die mittlere Schaffensphase als Auflehnung gegen den durch Napoleons Kaiserkrönung vollzogenen Verrat der Revolution sieht, so folgt er freilich bekannten Vorbildern (Bekker, Goldschmidt, Knepler, Gülke, Schleuning u. a.). Meines Wissens ist Hermand jedoch der erste, der Beethovens Wirken und Schaffen in einen so durchgängigen und einheitlichen Kontext des politisch-gesellschaftlichen Denkens stellt. Dabei verweigert er sich freilich platten Versuchen, im Werk bloß Abbildungstechniken zu entziffern, sondern sucht und findet das Allgemeine, das alle Generationen nach vorne treibt gegen das Belastende, Versklavende und Ewig-Gestrige.
Hermands Erörterungen späterer Phänomene der Beethoven-Rezeption (Spiegel-Berichte zum Jubiläum 1970, der DEFA-Film von 1976, Adornos Beethoven-Fragmente, genderspezifische Aspekte) haben nicht die Stringenz der vorangehenden kulturgeschichtlichen Analyse von Beethovens Schaffen und Werk. Die Terminologie der marxistischen Musikästhetik wird als bekannt vorausgesetzt, was wohl etwas zu optimistisch ist (z. B. das von Boris Assafjew entlehnte Wort „Intonation“ wird bereits ab S. 7 sehr häufig und unerklärt bemüht, jedoch erst S. 76 im Sinne von „inhaltlicher Intention“ als eine weltanschauliche Bedeutung definiert). Insgesamt aber ist Hermands Beethoven-Buch ein ungewöhnlich eindrucksvoller und überzeugender Diskussionsbeitrag in dem seit über zweihundert Jahre alten und noch längst nicht beigelegten Streit zwischen Autonomie- und Heteronomie-Ästhetikern.
Ulrich Drüner