Widmann, Jörg
Bayerisch-Babylonischer Marsch
für 8 Klarinetten und Klavier, Partitur und Stimmen
Wofür es 2012 in der insgesamt höchst begeisterten Opernuraufführungskritik zu Jörg Widmanns Babylon in der Süddeutschen Zeitung angesichts der Einbringung des Bayerischen Defiliermarsches und von Hupf-auf-Fragmenten Seitenhiebe gab, dies ist in der vorliegenden Widmann-Komposition (2014) zum Essenziellen geworden: Bayerisch-Babylonischer Marsch macht die eventuelle Absicht dieses bekritelten Opern-Einträgleins zur Wirkungshauptsache. Das Kopfthema des zum Franz-Josef-Strauß-etc.-Auftritts-Ohrwurm mutierten Defiliermarsches endet statt des maskulin abgehenden Dur-Signals im Original schon vorzeitig mit der Entmannung inmitten des zweiten Takts durch plötzliche Abkadenzierung, und dies überaus genüsslich über fast alle diese Zitate hinweg in diesem höchst witzigen Stück.
In seiner Karlsruher Rede (siehe YouTube!) arbeitet Widmann variantenreich samt Klavierklangbeispielen die Wichtigkeit des Kontexts musikalischer Einheiten, Themen, Ideen, Ganzheiten heraus, wie diese eben zusammengefügt, weitergeführt, gebrochen, ideenverbunden usw. werden. Der Bayerisch-Babylonische Marsch eröffnet treffend dem Musiker wie dem Hörer, was damit gemeint ist: musikalische Verläufe, Ganzheiten unterschiedlichen Anspruchs interessant stimmig weiterzuführen, doch entgegen ausgespurter Erwartung. Dieser Marsch voller Unerwartetheiten ist nicht so konzipiert, dass es einen bayerischen und einen babylonischen Teil gäbe. Nein, mittels bayerisch zugewandter oder sonst virtuos geprägter Melodieganzheiten wird quasi das babylonische Sprachengewirr hingeschüttet. Die Elemente sind eher bayerisch, der Zusammenbau ergibt Babylonisches. Und dies geschieht durch Taktwechsel, oft kurze, samt Wechsel des Grundschlags, z.B. von Marschviertel- zu ungeraden Achtel-Takten; durch langsam bzw. rasch übergehendes oder übergangsloses Tempo-Tauschen einschließlich Walzer-Stolperer, einmal gekrönt mit einer Art Generalpause, die den Hörenden erst klar werden lassen muss, dass es in der zunächst musikzugehörenden Stille zu einer fast menschlich-erwartungsneurotischen Wer-macht-weiter?-Spannung kommt. Der sich entsprechend aufbauende Peinlichkeitszustand wird jäh beendet durch ein mini-schreck-erzeugendes Klavierdeckel-Zuschlagen, das nach kurzer Abebbphase sich in die Freiheit des Weiterspiels im vorher hochgefahrenen Tempo löst bzw. öffnet. Widmann-like ist diese Pause mit ewig überschrieben und mit ausführlichen Verhaltensangaben für die Interpreten erläutert.
Die akustische Verwirklichung dieses Werks dürfte außerhalb gut bestückter Orchester nicht so einfach sein: Es-, B-, A- und Bassklarinetten sind schon oft nicht ohne Weiteres auf einen exzellenten Haufen zu kriegen; aber auch noch eine Kontrabassklarinette
! Der Reiz dieses Werks ist jedoch so bestechend, dass ein Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt bei der Einplanung überwunden werden sollte; sogar mittels einer hochentwickelten Musikschul-Klarinettenfachschaft, der der Zugriff auf dieses längste Klarinettenrohr verwehrt ist, und die statt dessen sich frecherweise mit einem tiefen Ersatzinstrument behilft. Widmann mags verzeihen; die Schönheit dieser Komposition verkraftete auch einen solchen Not-Teilersatz.
Maximilian Schnurrer