Werke von Pēteris Vasks, Julius Juzeliūas und Anatolijus Šenderovas
Baltic Concerti
Džeraldas Bidva (Violine), Karolina Juodelytė (Orgel), Lithuanian Chamber Orchestra, Ltg. Modestas Pitrėnas/ Adrija Čepaitė
Dass der Konzertmeister des Litauischen Kammerorchesters, Džeraldas Bidva, in seinem Geleitwort den Verlust der „jeweils nationalen Eigenart der Musik“ beklagt, erscheint verständlicher, wenn man weiß, dass die Verschleppung ganzer Bevölkerungsteile zur Stalin-Zeit und die gezielte Zuwanderung aus Russland die baltischen Völker an den Existenzrand brachte. Heute eliminiert die Globalisierung die „Lokaltöne“. Junge Komponisten, die ihre Grundfertigkeiten in Riga, Vilnius oder Tallinn erwerben, ziehen nestflüchtig westwärts: nach Berlin, Wien, Paris, London, an die Eliteinstitute der USA.
Das kulturelle Erbe des eigenen Landes und seiner Künstler zu bewahren und „auf transnationaler Ebene“ hörbar zu machen: dieser Wunsch bewegte den Violinvirtuosen, der neben dem Litauischen Kammerorchester auch die Kremerata Baltica leitet, zum 100. Jahrestag der (nach dem Ersten Weltkrieg wiedererlangten, 1940-1990 abermals verlorenen) Unabhängigkeit Litauens die Baltic Concerti auf CD herauszubringen. Die Edition sei ein Zeugnis tiefer Verbundenheit mit seinem Heimatland und seinen Menschen. Sie spiegele den Geist der gesamten Ostseeregion. Wobei die Musik Juzeliūnas’ von litauischer Folklore inspiriert und die Werke Vasks’ von tiefer Naturverbundenheit durchdrungen seien, während die Tonkunst Šenderovas’ dramatische Ereignisse der turbulenten Geschichte Litauens spiegele.
Von den drei sorgsam aufgenommenen und produzierten Violinkonzerten dieser Edition berührt das Konzert für Violine und Streichorchester von Anatolijus Šenderovas am tiefsten und nachhaltigsten. Der 1945 geborene Komponist – einer der wenigen Nachkommen der während der nazideutschen Besetzung liquidierten ostjüdischen Elite des damaligen Wilna – beschwört in seinem durchkomponierten Konzert die Schatten der Vergangenheit. Ein durchgehend ertönender Gong erzeugt eine sakrale Sphäre, zwischenzeitlich vertrieben von einem Geistertanz am Abgrund. Suggestive Kadenzen und elegische Monologe der Solovioline kontrastieren zu orchestralen Momenten tönender Innerlichkeit, changierend zwischen Auflehnung und Resignation, weher Erinnerung und zager Hoffnung.
Gegenüber der mehrschichtigen Musik Šenderovas’ wirkt die schwärmerische Fantasie Vox amoris für Violine und Streicher (2009) von Pēteris Vasks eher eindimensional. In ihr bekennt sich der Lette emphatisch zur Liebe als stärkster Bindekraft des Lebens.
Zu Ehren der Vaterfigur litauischer Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, Julius Juzeliūnas, rückte Bidva dessen Konzert für Orgel, Violine und Streichorchester (1963) in die Mitte des Programms. Aus Gesetzmäßigkeiten litauischer Folklore entwickelte der Komponist ein eigenes Harmoniesystem. Im übrigen ist er ein Meister polyfoner Techniken.
Unter den im Kopf genannten litauischen Dirigenten gewinnen die drei Werke Referenz-Charakter. Nur der Booklet-Text könnte ergiebiger sein.
Lutz Lesle