Berlinski, Herman
Avodat Shabbat
Hier gibt es einen emigrierten Komponisten und Organisten wiederzuentdecken: Herman Berlinski (1910-2001). Geboren in Leipzig, studierte er Komposition bei Sigfrid Karg-Elert in seiner Heimatstadt und bei Nadia Boulanger in Paris, dort auch Klavier bei Alfred Cortot. Es war dann aber Olivier Messiaen, der Berlinski ermutigte, seine jüdischen Wurzeln in ähnlicher Weise zur Grundlage seiner Musik zu machen, wie damals viele christliche Komponisten den gregorianischen Gesang. Später berief sich Berlinski auch auf Max Reger (die Leipziger Tradition!), um eine erkennbare einstimmig modale Melodie liturgischer Herkunft in chromatische Polyfonie einzubinden.
1941 emigrierte Herman Berlinski aus dem bereits besetzten Frankreich in die USA, machte sich dort einen Namen als Synagogenorganist, Chorleiter und nicht zuletzt Komponist. 1988 bestellte die Dresdner Staatsoper sein Oratorium Job zur Grundsteinlegung der Rekonstruktion der Hauptsynagoge der Stadt, im Jahr 2000 wurde seine 12. Orgelsinfonie Die zehn Gebote für Tenor, Bariton, zwei Trompeten, Erzähler, Schlagzeug, Chor, Celesta und Orgel in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt, noch kurz vor seinem Tod 2001 verlieh ihm der deutsche Bundespräsident das Kommandeurskreuz des Ordens Pour le mérite.
Diese CD enthält mit Avodat Shabbat (1963) nicht nur Berlinskis Opus magnum, sondern überhaupt die musikgeschichtlich erst dritte Vertonung eines Sabbat-Gottesdienstes für Kantor (Tenor), Soli, Chor und großes Orchester nach denen von Ernest Bloch und Darius Milhaud (Letztere erschien ebenfalls bereits in der verdienstvollen Reihe Milken Archive of American Jewish Music des Niedrigpreis-Labels Naxos). Bloch und Milhaud schrieben ihre Werke für den Sabbat-Samstag, Berlinski dagegen für den Vorabend-Freitag und griff dabei stärker auf traditionelle aschkenasische Modi zurück. Das Lkha Dodi zitiert sogar ausnahmsweise direkt eine sephardische Melodie. Die harmonische und formale Raffinesse dieser Vertonung in hebräischer und teilweise englischer Sprache verhinderte ihren Gebrauch in der Liturgie, bis auf die in amerikanischen Reform-Synagogen beliebt gewordene Abschluss-Hymne Adon Olam.
Der Komponist war im Jahr 2000 noch bei den Aufnahmen zu dieser CD in der bewährten Berliner Jesus-Christus-Kirche anwesend. Dirigent Gerard Schwarz gelingt es, das fast mediterrane Leuchten der violinlos durchsichtigen Partitur aus den Ausführenden zu holen. Vor allem das RSO Berlin gibt nicht nach in klangschöner Klarheit, vom lyrischen Oboensolo der Orchestereinleitung (der Werkbeginn erinnert ausgerechnet an Richard Strauss Oper Daphne!) bis zu den dramatischen Tutti. Man höre nur die zahlreichen liebevoll und subtil gestalteten Bläsersoli im 23. Psalm (The Lord is my shepherd) wird die Sopranistin Constance Hauman gar nur von einer nicht weniger wunderbaren Soloflöte (Silke Uhlig) begleitet. Melodischer Charme blüht ebenso wie religiöser Ernst und tänzerische Rhythmen. Die Nähe zu Leonard Bernstein wird deutlich, aber auch die absolute Eigenständigkeit Berlinskis.
Eine nachdrückliche Empfehlung also und Neugier auf den großen Werkkatalog dieses Komponisten: Wie wäre es zum Beispiel mit seiner Violinsonate Le Violon de Chagall?
Ingo Hoddick