Lebrecht, Norman

Ausgespielt

Aufstieg und Fall der Klassikindustrie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2007
erschienen in: das Orchester 09/2007 , Seite 76

Norman Lebrecht ist ein äußerst beliebter Musikjournalist in Großbritannien und so man von einem Bestsellerautor in diesem Bereich sprechen könnte, wäre er ein solcher. Gleichzeitig ist Norman Lebrecht aber auch ein Autor, der polarisiert, nicht nur durch seine ausgesprochen sarkastisch-witzigen Kommentare seines sehr englischen Humors, der vor nichts und niemandem Respekt hat, sondern auch dadurch, dass er gelegentlich seine Themen verkürzt und verschärft darstellt. Und wenn sich ein Journalist in Boulevardmanier über andere äußert, sollte man nicht vergessen, dass auch er mit dem laut postulierten Niedergang der Tonträgerindustrie hier Kasse zu machen gedenkt und nicht etwa eine Stiftung zur Einspielung längst überfälliger Produktionen einrichtet.
Schon die Einleitung kündigt das Kommende in aller Kürze an: „Wer hätte gedacht, dass ein berühmtes Label [die Deutsche Grammophon] das ‚Kind‘ eines Mittäters des NS-Regimes und eines KZ-Opfers wäre? Warum sollte ein streng orthodoxer Jude eine Gemeinschaft von Homosexuellen [das Label Decca zu Zeiten John Culshaws] finanzieren? Was brachte den Chef einer Schallplattenfirma dazu, mit einer Million Dollar in zwei Koffern nach Hongkong zu fliegen? Diese Märchen verlangten danach, dass man ihnen nachging.“ Für Freunde unterhaltsamer wahrer Geschichten ist Lebrechts Buch eine geradezu unerschöpfliche Fundgrube.
Die Betrachtung kleiner Labels findet in Lebrechts Ausführungen keinen Platz und beschränkt sich auf wenige Absätze. Dies ist fraglos ein dramaturgischer Zug, um die Situation zu pointieren. In einer Zeit, in der kleine Schallplattenlabels wieder einen Aufschwung nehmen und teilweise neue gegründet werden, sollte man allerdings nicht pauschal von einem Fall der Klassikindustrie sprechen, sondern allenthalben von dem Niedergang der Großproduktionsfirmen. Und dies ist auch das zentrale Thema von Lebrecht. Von der Personaleinstellung auf Grund von Erfahrungen auf der Besetzungscouch bis hin zur absurden Überproduktion behandelt er viele Bereiche. Alles auf höchst unterhaltsamem und sprachlich hohem Niveau. In jedem Fall gewinnt man das Gefühl, sehr viel über die Hintergründe dieses Industriezweigs zu erfahren.
Der Klassikkenner wird feststellen, dass das Buch nach Seite 200 leider deutlich abfällt. Nachdem im ersten Teil die „Maestros“, die Manager und Musiker, die Menschen im Zentrum standen und nicht selten ihr Fett gehörig wegbekamen, versucht Lebrecht im zweiten Teil seines Buchs „100 Meilensteine eines Jahrhunderts der Klassikindustrie“ sowie „20 Aufnahmen, die nie hätten gemacht werden sollen“ zu präsentieren. Hier erweist sich innerhalb allerkürzester Zeit, wie subjektiv eine solche Auswahl immer wieder ausfallen muss. Leider scheint der deutsche Verlag hier eine überforderte Lektorin beschäftigt zu haben, denn die zahllosen Fehler in der Namensschreibung von Künstlern spiegeln einen weiteren Aspekt des Niedergangs der Klassikindustrie wider – die weit verbreitete Ignoranz. Auch dass der englische Originaltitel Maestros, masterpieces, and madness. The Secret Life and Shameful Death of the Classical Record Industry verschwiegen wird, ist bedauerlich.
Jürgen Schaarwächter