Sulzer, Alain Claude

Aus den Fugen

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Galiani, Berlin 2012
erschienen in: das Orchester 02/2013 , Seite 60

Maria Callas hat vorgemacht, was die Hauptfigur in Sulzers neuem Roman Aus den Fugen, der gefeierte Pianist Marek Olsberg, zu seiner eigenen Überraschung tut: einen Opern- bzw. Konzertabend schmeißen, Konzertflügel und Publikum noch vor der Pause verlassen, und dies noch dazu in der Berliner Philharmonie. Solches Verhalten hat natürlich Folgen, nicht nur für den Pianisten, sondern auch für einige Konzertbesucher.
Welche, das erzählt Sulzer in kleinen Geschichten, die um den seltsamen Abend kreisen. Da ist die Arztgattin, die, früher nach Hause kommend, anhand diverser SMS-Nachrichten auf dem Handy ihres Mannes feststellen muss, dass der abwesende Gatte bei seiner Geliebten verweilt. Da ist ein durch die Welt jettender Geschäftsmann, der, Klavierabenden äußerst abgeneigt, die für ihn hinterlegten Karten verfallen lässt und deshalb früher als je gedacht in einem Hotelzimmer erleben muss, dass seine über eine Agentur „gemietete Abendbegleitung“ die Tochter seines einstigen Studienfreunds ist. Da ist eine stark dem Alkohol zusprechende einsame Dame, die im Parkhaus von ihrer Nichte erfahren muss, dass jener Mann, den sie einst an ihre Schwester verlor, nun der heimliche Liebhaber ihrer Nichte ist. Da ist der Kellner, der eigentlich bei dem – jetzt natürlich nicht mehr stattfindenden – Empfang des Pianisten in einer riesigen Villa bedienen sollte und der sich nun in der Rolle als Gelegenheitsdieb versucht, bis er von der Besitzerin des Anwesens überrascht wird – mit sehr überraschenden Folgen. Da ist auch die Privatsekretärin des Pianisten, die, schwer migränekrank, das Desaster des Konzertabends gar nicht erleben wird. Und da ist schließlich Marek Olsberg selbst, der, zum Finale in einer Bar auftauchend, einen Beau als jugendlichen Geliebten findet – ausgerechnet den bisherigen Liebhaber jenes Mannes, der vor Jahren der Partner von Marek selbst war.
Episoden des Lebens – Sulzer hält sie in der Schwebe. Er macht weder eine Shakespeare-Tragödie noch eine Feydeau-Komödie draus. Zeigt viel handwerkliches Geschick bei seiner literarischen Partitur – Beispiele hierfür: das indirekte Zitieren der Briefszene aus Effi Briest im Fall der zu früh nach Hause gekehrten Arztgattin; der Einfall, die Szene des aus einer Art Schlaftraum plötzlich aufstehenden Pianisten durch eine der Romanfiguren zu schildern; wie auch die Idee, den Konzertabend am Fugenende von Beet­hovens Hammer-Klaviersonate enden zu lassen. Genau an dieser Stelle öff­nen sich gleichwohl zwei Perspektiven, von denen Sulzer die eine inhaltlich ausfüllt, die andere hingegen nicht. Unschwer lässt sich der Roman als eine sechsstimmige literarische Fuge verstehen, die um das Marek-Thema kreist. Eine Fuge aus Lebensepisoden. Das ist die eine Perspektive.
Die andere wäre, die Musik literarisch zu beschreiben, was, wie Thomas Mann gezeigt hat, gerade im Fall der Hammer-Klaviersonate gut mög­lich gewesen wäre. Ist es doch gerade diese Sonate, die die traditionelle Fugenform eines Bach an die Grenzen kompositorischer Architektur treibt. Die musikalische Sprache wird hier so deutlich, dass sie sich für eine literarische Transformation förmlich aufgedrängt und der Romanidee, dass – getreu dem Shakespeare’schen Motto – die Welt aus den Fugen sei, ihrerseits genügend Nahrung gegeben hätte.
Winfried Rösler

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