Rick LaSalle
Aulodion für Oboe solo
Es gilt als das älteste überlieferte Musikstück überhaupt: ein Skolion auf der griechischen Grab-Stele von Seikilos aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Ein Skolion wurde in abendlicher Gesellschaft gerne geistvoll improvisiert dem Gastgeber gewidmet; früher assoziierte man deshalb mit dieser Gattung eine gewisse Trunkenheit. Heute stehen eher die philosophischen Aspekte im Vordergrund. So kündet auch – streng jambisch – das berühmte Seikilos-Skolion: „Trauere über nichts zu viel. Eine kurze Frist bleibt zum Leben. Das Ende bringt die Zeit von selbst.“ Wie Skolien konkret aufgeführt wurden, entzieht sich heutiger Kenntnis.
Rick LaSalle ließ sich von dieser Melodie inspirieren und komponierte daraus ein Solostück für Oboe. Steht zunächst die alte Melodie wörtlich zitiert zu Beginn, entspinnt sich daraus in freien Assoziationen und motivischen Variationen ein rein technisch nicht sonderlich schwieriges Werk. Die Feinheiten liegen im Detailreichtum, und hier verlangt LaSalle dem Ausführenden einiges ab. Angelehnt an eines der bekanntesten und beliebtesten Instrumente des alten Griechenlands, den Doppel-Aulos, durchzieht das Werk über weite Strecken eine Zweistimmigkeit, die LaSalle durch Halsungen in zwei Richtungen kenntlich macht. Auch zahlreiche Vortragshinweise unterstreichen die Zweistimmigkeit. Hier entsteht im Verbund mit Tonart- und Taktwechseln ein musikalisch vielschichtiges Gebäude, dessen gerade einmal zweioktaviger Tonumfang und die dynamische Beschränkung auf den unteren Mittelbereich (nur einmal erscheint ein pp) eine Simplizität nur vortäuscht.
Eingerahmt wird das zentrale Mittelstück von einem „Heptapentetrios“ zu Beginn und einem finalen „Teleiotikos“. Beide entstanden im Komposi-tionsprozess erst später. Das einleitende Stück changiert zwischen diversen ungeraden Takten und nutzt zahlreiche Quart- und Quintintervalle. Sich wiederholende Rhythmusbausteine und die zwischen D-Dur und d-Moll stehende Tonalität konterkarieren wirkungsvoll die Fünfer- und Siebener-Einheiten. Das Finale klingt zupackend und bukolisch-fröhlich. Hier fasst LaSalle die Elemente der ersten beiden Sätze zusammen und bereichert das Ganze um einige, durchweg sehr angenehm liegende Läufe. Das griffige Thema und die häufigen, nur minimal veränderten Wiederholungen kurzer Abschnitte schaffen eine Atmosphäre bodenständiger Heiterkeit.
Jeder der drei Sätze erstreckt sich über zwei Druckseiten. Der Tonumfang geht von d’ bis f”’, wobei die Spitzentöne nur vereinzelt vorkommen und so eingebunden sind, dass sie wenig Mühe machen – der überwiegende Teil bewegt sich in bequemer Mittellage. Im Verbund mit der an alte Tonarten angelehnten Tonalität und der durchweg konventionellen, rhythmisch nicht übermäßig komplexen Notation sind die drei Sätze von Aulodion auch für fortgeschrittene Schüler:innen gut spielbar, zumal auch die langen Melodiebögen über zahlreich eingeflochtene Atemmöglichkeiten verfügen.
Marie-Theres Justus-Roth