Gülke, Peter
Auftakte Nachspiele
Studien zur musikalischen Interpretation
Peter Gülkes jüngster Band versammelt Essays und kleinere Schriften aus vier Jahrzehnten, die, von zwei Ausnahmen abgesehen, bereits publiziert worden sind, teils an entlegener Stelle. Hinzu kommen eigens für die Auftakte verfasste Momentaufnahmen. Im Kleinen wird hier gegenwärtig, was auch für die längeren Studien gilt: Gülke vermag wie kaum ein anderer den praktischen Zugang mit dem theoretischen Ansatz zu verbinden.
Obgleich stilistisch geschliffen und eloquent formuliert, ist es nicht immer leicht, Gülkes anspruchsvollen Ausführungen zu folgen. Doch wird die Mühe des Lesers reich belohnt. Musikhistorische Reflexion, scharfe Analyse und lange praktische Erfahrung als Kapellmeister mit der Staatskapelle seiner Heimatstadt Weimar und den Wuppertaler Sinfonikern vereinen sich hier auf das Glücklichste.
Fragen der Interpretation geht Gülke minutiös am konkreten Beispiel etwa von Beethovens und Mozarts Sinfonien nach. Gerade Gülke, der mit vielen musikalischen Wassern Gewaschene, weiß um die Defizite, Chancen und gemeinsamen Zuständigkeiten, die die wissenschaftliche Edition und deren interpretatorische Umsetzung mit sich bringt. Ausdrücklich befürwortet der Dirigent und Musikwissenschaftler die philologische Kleinkrämerei.
Ob Klang und Musizierstil, Taktschlag und musikalischer Atem, ob historische Aufführungspraxis und Urtext oder bereits 1966 geäußerte Gedanken zu einer Theorie der musikalischen Interpretation Gülke behält bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit immer auch die Realisierbarkeit in Konzertsaal und Tonstudio im Blick. Für jedes (auch verjährte) Werk gilt es, Interpretationsmöglichkeiten aus einem Kompromiss von Stiltreue und Sinntreue herauszufinden. Letztlich muss jede Interpretation von Rang abzielen auf das musikalische Ereignis von etwas Wohlverbürgtem und Beglaubigtem, doch hier und jetzt auch Neuem und Einmaligem.
Auch den (verstorbenen) Kollegen am Dirigentenpult gilt Gülkes Augenmerk. Den Totalmusiker Mahler zeichnet er als komponierenden Interpreten, der die eigenen Werke immer wieder ausdünnt und zuspitzt, während er an Beethovens Neunter oder Schuberts Dritter das Ungewöhnliche durch Eingriffe in die Partitur noch verstärkt. Neben Hans von Bülow und Toscanini, neben Furtwängler und Karajan würdigt Gülke den zumindest im Westen fast vergessenen Hermann Abendroth, erinnert an Eugen Jochum, Günter Wand und Carlos Kleiber ebenso wie an Sergiu Celibidache.
Das Beste aber steht in diesem Band am Schluss. Auf kleinstem Raum blitzt in einem halben Hundert Miszellen Gülkes Gewitztheit immer wieder auf. Die im Ton persönlich-vertraut, auch anekdotisch-humorvoll gehaltenen Gedankensplitter speisen sich aus den Erinnerungen eines bald 75-jährigen Musikerlebens. Finales Sammelsurium nennt Gülke diese Momentaufnahmen. Wir nennen sie schlicht, wie das Buch insgesamt, einen Glücksfall.
Jürgen Gräßer