Mendelssohn Bartholdy

Athalia

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler 98.486
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 84

Schon lange beschäftigt sich Helmuth Rilling intensiv mit Felix Mendelssohn Bartholdys Chorwerken – zuletzt mit Elias als Abschlusskonzert des Europäischen Musikfests 2004 in Stuttgart. Jetzt hat er sich eines unbekannten Chorwerks des Komponisten angenommen: Athalia.
Mendelssohn Bartholdy schrieb seine Musik zu Jean Racines (1639-1699) Drama Athalie im Auftrag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Die Musik umfasste zunächst nur die Chor-Einwürfe am Ende jedes Akts
sowie die vokalen Sätze. Im Rahmen einer weiteren Überarbeitung änderte Mendelssohn den Schlusschor grundlegend. Obwohl sich Mendelssohn zunächst eher gegen eine weitere Verbreitung der Musik zu Athalia wandte, wurde sie in Potsdam wiederholt und später in Deutschland und sogar in England mehrfach aufgeführt.
Rilling hebt mit der wunderbar intonationsklaren Gächinger Kantorei Stuttgart und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR den hymnisch-ekstatischen Ausdruckscharakter dieser Musik hervor. Romantische Gefühlstiefe und barocke Formstrenge gehen so nahtlos ineinander über. Die Cantus-firmus-Strukturen blitzen bei den beiden protestantischen Kirchenliedmelodien präzis hervor: Ach Gott, vom Himmel sieh darein und Vom Himmel hoch, da komm ich her. Die feurige Vision des Hohepriesters Jojada erinnert hier deutlich an die dramatischen Elemente des Elias, wobei Rilling die pathetischen Akzente nicht unterstreicht und der Partitur so die notwendige Klarheit gibt. Mendelssohn geht mit seiner Musik noch einen Schritt weiter als Racine, indem er zu dieser harmonisch eindringlichen Vision die Choralmelodie Vom Himmel hoch, da komm ich her erklingen lässt.
Reminiszenzen an die Geburt Christi werden durch den dezenten Einsatz der Harfe unterstrichen, die an König David erinnert.
Die vorzüglichen Solisten Letizia Scherrer, Katalin Halmai (Sopran I und Il), Daniela Sindram (Alt), Ulrike Goetz und Rudolf Guckelsberger (Sprecher) fügen sich nahtlos in den Klangkosmos ein. Wie immer beweist Helmuth Rilling bei seiner überaus konzentrierten Interpretation formende Kraft. Obwohl kaum motivische Verbindungen erkennbar sind, verweist die kantable Prägung immer wieder sehr deutlich auf die folgenden vokalen Sätze. Die einleitende, von den Bläsern vorgestellte Wendung drängt ebenfalls zu vokalen Assoziationen. Mit gut herausgearbeiteter kontrapunktischer Dichte fesselt Rilling hier seine Hörer. Reminiszenzen zu Mendelssohns zweiter Sinfonie Lobgesang op. 52 werden wach. Der Kriegsmarsch der Priester kommt mit wilden Staccato-Rhythmen daher. Solistische und chorische Gesänge sowie melodramatische Abschnitte mit der Vereinigung von Musik und gesprochenem Text führen bei dieser auch akustisch ausgesprochen transparenten Wiedergabe zu eindringlichen klanglichen Höhepunkten.
Textverständlichkeit wird bei dieser Interpretation ebenfalls groß geschrieben. Dies ist wichtig, denn Mendelssohn hat die Worte meist rein syllabisch vertont. Die großen melodischen Bögen gewinnen dank Rillings lyrisch angelegtem Dirigat großen dynamischen Atem, der sich zuweilen ins Sphärenhafte erhebt. Choralmelodien werden hier stellenweise durchaus cantus-firmus-artig eingeflochten. Rilling legt die harmonischen Strukturen bei seiner manchmal geradezu opernhaft wirkenden Wiedergabe konsequent offen. In wahrem Stretta-Taumel endet „Ein Schrei des Jubels“ als krönender vokaler Abschluss, Motiventwicklung und thematische Vielfalt blühen in beglückender Weise auf.
Alexander Walther