Widmann, Jörg

Armonica

für ORchester, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: das Orchester 06/2015 , Seite 76

Mozart komponierte für sie, Gaetano Donizetti und selbst Richard Strauss. Gemeint ist die Glasharmonika, jenes Instrument aus zwei ineinander geschobenen Glaszylindern, das Benjamin Franklin 1761 erfand und Armonica oder Glasharmonika nannte. Der zerbrechliche, mystische Klang der Glaswalzen und das anmutige Fremde war es wohl, das Musiker am neuen Instrument so reizte. Doch dann wurde es still um die Armonica. Erst in der jüngerer Zeit findet sie wieder mehr Beachtung.
Als Auftragswerk für die Salzburger Festspiele komponierte Jörg Widmann sein Orchesterwerk mit dem bezeichnenden Namen Armonica, das mit Pierre Boulez am Pult im Januar 2007 seine Uraufführung erlebte. Widmann platziert Klangflächen wie große Farbkleckse. Sein Material sind Geräusche („Nur Blasebalg-Luftgeräusch“, so eine Spielanweisung fürs Akkordeon) und Klangcluster gleichermaßen. Wie in einem großen Mobile changieren die farbigen Klänge und suchen ein stets neu auszubalancierendes Gleichgewicht. Die Glasharmonika ist kein Soloinstrument, auch wenn ihre feinen, ja zerbrechlichen Klänge das ganze Werk nicht nur durchziehen, sondern geradezu dominieren. Wie aus dem Nichts steigen die Klangteppiche auf, drängen vorwärts und vermischen sich mit dem perkussiven Spiel von Celesta, Klavier, Schlagwerk und Streichern.
Dem zarten Charakter der Glasharmonika stellt Widmann das erdige Akkordeon gegenüber. Quasi als Soloinstrumente will er diese beiden Instrumente verstanden wissen, die (wie es in der Partitur heißt) halbsolistisch links und rechts vom Dirigenten sitzen sollen. Doch von der klassischen Konzertform ist dieses Orchesterstück weit entfernt. In seinen fein aufgedröselten Klangteppichen erkennt man deutlich, dass Jörg Widmann ein Schüler Wolfgang Rihms ist. Er spürt dem Klang nach, schafft Flächen, die nicht nur Farbe, sondern Wärme vermitteln. Es ist eine Musik, die unmittelbar anspricht, einen einfängt. Die typischen feinen Klangfarben der Glasharmonika unterstreichen das Überirdische dieser Musik noch.
Jörg Widmanns Armonica ist ein eigener kleiner Kosmos, geschaffen zur Wiederbelebung und Neuentdeckung eines alten Instruments – ohne an die Tradition dieses Instruments anzuknüpfen. Er sucht in seinen langsamen, aber stetig sich entwickelnden Akkorden nach einem eigenen Zugang zum gläsernen Instrument. Nicht umsonst gehört Armonica mit in den Kanon der Moderne.
Eine Studienpartitur muss handlich sein, allerdings stößt das praktische DIN-A4-Format dieser Ausgabe arg an die Grenzen der reichhaltigen Partitur: Um alle Stimmen auf eine Seite drucken zu können, ist das Druckbild so klein geworden, dass es mühselig ist, den Notentext zu entziffern. Auch wünscht man sich eine kleine Einführung zu Komponist und Werk. Aber dass Armonica jetzt endlich als preiswerte Partitur vorliegt, ist nicht nur eine Bereicherung, sondern ein echter Gewinn.
Markus Roschinski