Henze, Hans Werner
Aristaeus/Orpheus behind the Wire
Während manche Aufmerksamkeit gespannt, doch vergeblich auf jenen Labels ruhte, die Henzes sinfonisches uvre endlich komplettieren könnten (die Sinfonia N. 8 und N. 10), hat Wergo Vorzügliches hervorgebracht. Die Veröffentlichung wesentlicher Bühnen- und Orchesterstücke fortführend, enthält die neue Platte zwei faszinierende Stücke, wie sie konträrer kaum sein könnten. Doch diese Polarität ist durch Gegenstand, Anliegen und musikalische Verwandtschaft geeint: Sie zeigen Henze als das, was er stets blieb als politisch engagierten Künstler und als feinsinnigen Ästhet, dessen Musik die größte Absicht hat zu wirken. Humanität ist ihre Klammer, ebenso Henzes ständiges Mühen, aus mythischen Tiefen Unbekanntes ans Tageslicht zu befördern und Anderes, Neues entstehen zu lassen, den Menschen mitten ins Herz zielend!
Das Dramma in musica Aristaeus per voce recitante (baritono) e orchestra (1997/2003) erzählt mit der Reife und Resignation des Alters und Henzes wunderbar poetischem und prägnantem Text das Alter Ego in der Maske des Sprechers, Jetzt und Vorzeit verwebend, Vorstellungskraft aufs höchste beflügelnd von einer unmöglichen Liebe, einem lust- und leidvollen, zwischen Begehren und Tod gespannten Geschehen. Aristaeus treibt Eurydice ins Verderben; am Ufer des Styx beweint er seine Schuld gemeinsam mit Orpheus.
Henze versammelt die mythologischen Figuren und Orte seiner Werke und auch die Stücke selbst, um in der so erschaffenen Landschaft und einem erotischen Klima Schuld und Sühne, Freiheit und Verantwortung zu thematisieren und die Welt als ewigen Spielplatz von Tragödien zu zeigen. Nicht nur die Sonata per violino solo Tirsi, Mopso, Aristeo (1977) hat ihren Wiederauftritt, zu dem sich Eurydice, das Objekt der Begierden, und Orpheus, der zwielichtige Sänger, gesellen. Auch die Barcarola (1979), dieses Bootlied des Fährmanns Charon bei der Überquerung des Flusses Styx, sowie die Tanzszenen Orpheus (1978) und die A-cappella-Chöre Orpheus behind the wire (1983) nach Edward Bond werden herangezogen, um nun instrumental Henzes Fabulieren zu begleiten und Visionäres zu befördern.
So artikuliert die Musik mit zurückbeorderten Klangzeichen und Formen, mit mäandernden Melodien und vitalen Rhythmen, mit innigen Anwandlungen und gleißenden Farben aufs Neue eine sehnsüchtige Sinnlichkeit und geheimnisvolle Beredtheit, die vom Tod spricht, sich ans Leben aber hält. Und als politisches Fanal dringen die Chöre Orpheus hinter Stacheldraht mit jener spröden Kantabilität und klangscharfen Expressivität, die sie in Aristaeus einbringen, darauf, Menschenwürde zu verteidigen und aufbegehrend den Sieg der Freiheit einzufordern.
Außerordentlich perfekt und engagiert meistert der Berliner Rundfunkchor mit Robin Gritton dieses Vokalwerk ebenso souverän wie Martin Wuttkes suggestive Sprachkunst samt dem intensiven, nuancenreichen Spiel des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Marek Jurowski das Melodram. Die Live-Aufnahme eines Konzerts vom Februar 2004 als eindrückliche CD-Weltpremiere!
Eberhard Kneipel