Henze, Hans Werner / Alban Berg
Appassionatamente plus per grande orchestra / Lulu-Suite. Symphonische Stücke aus der Oper Lulu
Die moderne deutsche Oper (gemeint ist hier die Neue Oper des 20. und 21. Jahrhunderts, nicht die modernistisch inszenierte klassische Opernliteratur auf den Bühnen unserer Zeit) ist noch immer ein Berührungsangst-Objekt für Deutschlands Opernhäuser. Umso mehr, seit sich ein tonangebender Musical-Fastfood-Boom auf den Musikbühnen zwischen Hamburg und München breit gemacht hat. Wie und wo dem Stiefkind zeitgenössische Oper also einen Spielplatz einräumen? Hans Werner Henzes Das verratene Meer etwa, auf einer hochdramatischen japanischen Romanvorlage fußend, erlebte seit seiner Uraufführung 1990 in Berlin und auch nach der Revision des Werkes im Jahr 2003 nur wenige weitere Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen, zuletzt wohl 2006 in Salzburg. Dabei ist der Stoff, von dem diese Oper lebt, an gesellschaftlicher Aktualität kaum zu überbieten, ebenso seine künstlerische Bewältigung.
Aber Henze der Unbeugsame wäre nicht Henze, wenn er dem Zaudern der Rampenhüter tatenlos zuschauen würde. Und so stellte er, listenreich, seinem überarbeiteten Opernwerk zeitgleich eine Orchesterkomposition bei: Appassionatamente plus per grande orchestra. Auch diese übrigens ein Remake, eine neue Spielart der bereits 1994 nach der ersten Opernfassung aus der Taufe gehobenen Orchesterfantasie Appassionatamente. Der Komponist schuf hier ein Cuvée aus dem Bestand instrumentaler Zwischenspiele in Das verratene Meer. Ein bemerkenswerter Trick, dieses Anfüttern eines Konzertpublikums, um dessen Blick beziehungsweise Gehör auf das Opernwerk selbst zu lenken.
Ein durchaus Erfolg versprechendes Ansinnen, jedenfalls in Gestalt der überragenden Interpretation, welche die Essener Philharmoniker unter Stefan Soltesz Ende Mai 2010 im Rahmen von RUHR.2010 während einer öffentlichen Aufführung auf Super Audio CD einspielten. Und diese neue Mehrfachkanaltechnik motzt ja nicht etwa mittels digitaler Zaubereien Gutes zu Bestem auf, sondern stellt gerade wegen ihrer buchstäblich unerhörten neuen Raumklangqualität die allerhöchsten Ansprüche an die Interpreten. Das große Orchester aus Essen erfüllt sie hier mit geradezu kammermusikalischer Präsenz jedes seiner Mitglieder.
Dasselbe gilt auch für das zweite Werk auf dieser Scheibe, Alban Bergs Lulu-Suite. Interessant ist zudem eine werkgeschichtliche Parallele beider doch zeitlich und stilistisch weit voneinander entfernten Kompositionen: Wie Henze versuchte Alban Berg mit seiner Suite als eigenständigem Komplettwerk einer Opern-Krise zu begegnen, nur: Seine letzte Oper Lulu konnte er dann doch nicht mehr ganz fertigstellen, wohingegen Henze einer vollendeten großen Oper Lebenshilfe spendet. Klaus Oehls Kurzessay im CD-Booklet geht auf diese Parallelität nicht ein, aber unter dem Titel Gewalt und Natur in zwei Orchesterwerken von Alban Berg und Hans Werner Henze auf zeit- und werkgeschichtliche Details, die das Hörerlebnis zu vertiefen vermögen. Dieser sehr lesbare Text ist nicht zuletzt auch ein gutes Stück Aufklärungs- und Rehabilitationsarbeit am Gegenstand Neue Oper.
Günter Höhne