Diaghilew, Sergej

Apologie der Avantgarde

Memoiren aus dem Nachlass

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 02/2010 , Seite 64

Ein seltsames Konglomerat von Texten, deren Existenz nicht ganz unbekannt war, die gleichwohl bis vor Kurzem zum Teil unveröffentlicht, zum Teil in längst vergessenen Büchern vor sich hinstaubten, bis sie kürzlich in Frankreich wieder ans Tageslicht gelangten. Ihr Titel: Apologie der Avantgarde, Memoiren aus dem Nachlass. Bloß dass die im Untertitel angekündigten „Memoiren“ falsche Erwartungen wecken.
Es handelt sich um Aufzeichnungen aus dem Zettelkasten – über Mussorgskys “Boris Godunow” und “Chowantschschina”, Puschkins Briefe, “Dornröschen”; Glinkas “Ruslan und Ludmilla” und Tschaikowskys “Jolanta” nebst einem dreiseitigen Brief, „Apologie der Avantgarde“, in dem Diaghilew mit ein paar reaktionären Kritikern abrechnet. Dabei bringt der zweite Teil des Büchleins mit den Kapiteln „Diaghilew, wie Paul Morand ihn sah“ und „Diaghilew, wie Robert Brunel ihn sah“ zwei Porträtskizzen des russischen Impresarios von mit ihm befreundeten zeitgenössischen Kritikern, die an Intelligenz und Lebendigkeit schwer zu übertreffen sind.
Zusammen mit dem höchst originellen Vorwort des französischen Herausgebers Guillaume de Dardes, der Diaghilew mit dem Minotaurus vergleicht, ergibt das ein Mosaik, das die künstlerische Aufbruchstimmung Russlands an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert (und den Abschied von seiner zaristischen Vergangenheit) ungemein suggestiv vermittelt. In erster Linie geht es dabei um die von Diaghilew gegründeten Ballets Russes und ihre vielfältigen Verzweigungen mit der Gesellschaft und der Politik, vor allem aber mit den profiliertesten Künstlern aus Literatur, Bildender Kunst, Musik und dem Theater jener Zeit. Mit der nützlichen Chronologie, den Anmerkungen zur französischen Edition und zur Bibliografie sowie dem Register bietet es ein Mini-Kompendium über Diaghilew als eine der Zentralpersönlichkeiten der europäischen Kulturgeschichte während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Horst Koegler