Floros, Constantin

Anton Bruckner – Persönlichkeit und Werk

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2004
erschienen in: das Orchester 02/2005 , Seite 72

Wenn ich alle Buchtitel mit dem Verfassernamen Constantin Floros aus meinem Regal ziehe, gerät mein musikwissenschaftlicher Literaturbestand in Schieflage. Vergleichbar ins Rutschen brachte der Hamburger Musikforscher mit seinen kaum noch zählbaren Büchern und Aufsätzen die Fiktion einer „absoluten“, semantisch unbefleckten Musik. Getrieben von einer unstillbaren, auf die Verschlungenheit von Leben und Werk gerichteten Entdeckerlust, begann er seine Rehabilitation bildhafter, von außermusikalischen Vorstellungen bedrängter Musik mit der 1977/85 bei Breitkopf & Härtel erschienenen Mahler-Trilogie. Es folgten Sujet-Studien zu Beethovens Eroica und Prometheus-Musik (1978), exegetische Studien zu Brahms und Bruckner (1980) und die eigene Schriftensammlung Musik als Botschaft (1989), bevor er 1992 seine Forschungsergebnisse zu Alban Berg vorlegte (Persönlichkeit, programmatische, zahlenmystische und klangmagische Obsessionen, Liebeswirren und Werkgestalten). Untertitel-These: „Musik als Autobiografie“.
Nach seiner Emeritierung im Jahr 1995 legte Floros erst richtig los. 1996 erschien in Wien sein materialreiches Ligeti-Buch: die bislang gründlichste und ergiebigste Studie über den inzwischen 81-jährigen Ungarn. Vier „menschelnde“ Buch-Ideen verwirklichte er im Arche-Verlag. Frei, aber einsam heißt das Motto seines 1997 gedruckten Brahms-Buchs mit dem programmatischen Untertitel: „Ein Leben für eine poetische Musik“. Als „Visionär und Despot“ porträtierte er 1998 den Kapellmeister, Liedkomponisten und Sinfoniker Gustav Mahler. Zum Millennium füllte Floros die Erträge seiner inhaltsästhetischen Kartografie in ein an- und aufregendes Lesebuch: Der Mensch, die Liebe und die Musik. 2001 bündelte er seine Beweisaufnahmen zur biografisch katastrophalen, doch künstlerisch ungeheuer fruchtbringenden Liebestragödie zwischen Alban Berg und Hanna Fuchs zur Geschichte einer Liebe in Briefen.
Zu kurz gekommen war noch seine vierte große Komponistenliebe: Anton Bruckner. An seine zahlreichen, unselbstständig erschienenen Bruckner-Studien anknüpfend, fasst der Autor nun in seiner bekannt systematischen, stilistisch unprätentiösen Art seine lebensbegleitenden Hörerfahrungen, Quellenstudien und analytischen Beobachtungen zusammen. Nach allem, was über die Wesensart des Österreichers in Umlauf ist, konnte die Eingangsfrage nur lauten: „Wer war Bruckner?“ Brahms hielt ihn bekanntlich für einen armen, verrückten Menschen, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen hätten. „Ein einfältiger Mensch – halb Genie, halb Trottel“, behauptet ein viel zitiertes Aperçu Gustav Mahlers (der, wie Floros am Buchende andeutet, in bestimmten Satztypen, Satzanfängen und -schlüssen, in bevorzugten „Charakteren“ wie Marsch, Trauermarsch, Choral, Hymnus und Ländler Bruckner gar nicht so fern steht). Mahlers Urteil pointiert die allgemeine Fehleinschätzung einer Komponistenpersönlichkeit, die – für einen Künstler nicht ungewöhnlich – Demut und Selbstbewusstsein in sich vereint. Schwingt nicht eine Portion Sarkasmus mit, wenn Bruckner die Dirigenten, die sich – unter Auflagen – für seine Symphonien einsetzten, als seine „Vormünder“ bezeichnete? Die einzigen Autoritäten, die er uneingeschränkt anerkannte, waren Richard Wagner und der liebe Gott. Die „falsche Welt“ erschien ihm demgegenüber als „jämmerliche Bagage“.
Bruckners Neigung, den Ratschlägen „wohlmeinender“ Dirigenten nachzugeben, überhaupt sein ewiges „Nachbessern“ führt Floros auf eine (1867 diagnostizierte und behandelte) Neurose zurück. Sie trieb den Komponisten zu Höchstleistungen an, zwang ihn aber auch zu ständigen Kontrollhandlungen (Folge lebenslanger sexueller Enthaltsamkeit?). Die Lektüre „feindlicher“ Kritiken nährte Bruckners zeitweiligen Verfolgungswahn.
Zum lebensnah entworfenen Charakterbild des Komponisten – dessen „Modernität und Erhabenheit“, „nachtdunkle Unberührtheit“ (Adorno), Steigerungszüge und Gipfelungen, Abgründe und „scheinbare Brüche“ Floros von Jugend an tief berührten – gehören wesenhaft die unerschütterliche Religiosität und eine „Sympathie mit dem Tode“ (Thomas Mann). Überzeugt, dass Bruckners Tonkunst Ausdruck seiner Spiritualität und seiner „inneren Welt“ sei, widmet sich Floros im Mittelteil des Buchs der geistlichen Bekenntnismusik: seiner neuen, dramatischen Konzeption der Messe, seinen Credo-Vertonungen, der religiösen Tonsymbolik, dem Te Deum und 150. Psalm.
Der umfangreichere Schlussteil bleibt dem Symphoniker vorbehalten. Nach eingangs erörterten Stilfragen und Bemerkungen zur „Fremdartigkeit“ Bruckners geht es um Autobiografisches in der zweiten und dritten Symphonie, Bruckners Bekenntnis zu Wagner, die Trias der mittleren Symphonien, die siebte als „zweite Wagner-Symphonie“, die imaginativen Assoziationen der achten und die neunte als „Abschied vom Leben“.
Zwei gewichtige Kapitel runden das Buch ab. Hier befragt und würdigt Floros die Bruckner-Interpretation (Günter Wand, Eugen Jochum, Sergiu Celibidache) und nimmt sich die Hüter des Fortschrittsgedankens vor, die Bruckner dem konservativen Lager zurechnen. Schönberg, der den „variierend entwickelnden“ Brahms zum Fortschrittlichen erklärte und Bruckner „billige“ Sequenztechnik („Rosalien“) ankreidete, hält Floros unter Berufung auf Webern und den Bruckner-Biografen Ernst Kurth entgegen, dieser habe den tonalen Raum enorm erweitert und die Tonalität bis an ihre Grenzen geführt. Dass Bruckner kein Dissonanzmuffel war, zeigt beispielhaft das modulierfreudige Hauptthema der Achten, welches alle zwölf Töne der chromatischen Skala enthält. Mit den lang ausgehaltenen Dissonanzen im Kopfsatz und im Adagio der Neunten, so Floros, stoße Bruckner „in Ausdrucksbezirke vor, die bereits den Expressionismus ankündigen“.
Lutz Lesle

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