Weidle, Barbara/Ursula Seeber (Hg.)
Anna Mahler
Ich bin in mir selbst zu Hause
Anna Mahler (1904-1988) war die einzige das Kindesalter überlebende Tochter Gustav Mahlers. Mehr noch als ihre früh verstorbene Halbschwester Manon Gropius ist sie außerdem das einzige der Kinder Alma Mahler-Werfels, das sich künstlerisch entfalten konnte. Obwohl auch musikalisch veranlagt, widmete sich Anna Mahler eigenschöpferisch der bildenden Kunst, und hier neben der Malerei und Fotografie insbesondere der Bildhauerei. Ihr umfangreiches, ernst zu nehmendes uvre, das unter anderem Porträts ihres Vaters, Bruno Walters, Arnold Schönbergs, Alban Bergs und Wilhelm Furtwänglers enthält, war seit den 1950er Jahren vermehrt Gegenstand einzelner Ausstellungen und Kataloge.
Mit dem nun erschienenen Band wird die jüngste, zum 100. Geburtstag entstandene Schau des Literaturhauses Wien dokumentiert und erweitert. Der von Barbara Weidle und Ursula Seeber herausgegebene Band enthält nicht nur Abbildungen von über 40, zum Teil zerstörten bzw. verschollenen Arbeiten Anna Mahlers, sondern darüber hinaus zahlreiche, vielfach bislang unbekannte Fotos aus dem privaten Umkreis der Künstlerin, die mit dem Korrepetitor Rupert Koller, dem Komponisten Ernst Krenek, dem Verleger Paul Zsolnay, dem Dirigenten Anatole Fistoulari sowie dem Regisseur und Autor Albrecht Joseph verheiratet war.
Wissenschaftlich fundiert sind mehrere Aufsätze, die einzelne Lebensstationen Anna Mahlers beleuchten, flankiert von systematischen Betrachtungen über die Familie Mahler-Werfel (von Alma Mahler-Werfel-Biograf Oliver Hilmes), über Anna Mahlers zwangsweise knappe Erinnerungen an ihren Vater (von Mahler-Biografin Herta Blaukopf) und über Anna Mahler als literarische Figur (u.a. mit Bezug auf einen Roman von Marlene Streeruwitz). Höchst verdienstvoll nehmen sich die Dokumentation der bislang unveröffentlichten Erinnerungen Albrecht Josephs an Alma Mahler-Werfel aus sowie die Wiedergabe unbekannter Briefe Anna Mahlers an ihre Mutter aus den Jahren 1945-47. Wie problematisch und doch innig das Verhältnis der Tochter zu ihrer Mutter war, wird an zwei scheinbar widersprüchlichen Briefpassagen deutlich. Zum einen heißt es 1945 über Mahler-Werfels Plan, ihre Memoiren zu verfassen: Über nichts freue ich mich so sehr, als daß Du Dein Leben schreibst. Zum anderen macht eine Briefpassage von 1947 deutlich, wie sehr Anna Mahler unter ihrer Mutter gelitten hat und immer wieder zu leiden fürchtete: Jedesmal wenn ich Deine Schrift sehe, kriege ich einen Stoß in die Magengrube vor Angst, daß der Brief ekelhaft ist, und dann einen Seufzer der Erleichterung[,] wenn die Lecture glimpflich abgegangen ist.
Insofern ist dieser durch Zeittafel, Register, Quellen- und Literaturverzeichnis vorzüglich ausgestattete Band auch eine wichtige Bereicherung für alle an Alma Mahler-Werfel interessierten Leser. Dem Schicksal ihrer Mutter nicht unähnlich, hat Anna Mahler ein Leben an der Seite großer Künstler geführt, sich selbst als Person aber vor dem Hintergrund eigener kreativer Erfüllung stärker zurückgenommen. Die Herausgeberinnen fordern zu Recht Respekt vor dieser Lebensleistung.
Jörg Rothkamm