Schlüter, Wolfgang
Anmut und Gnade
Roman (= Die Andere Bibliothek, Band 265)
Flammende Reden, brennende Barrikaden, brennende Autos: Vom Aufruf zum Aufruhr ist der Weg in Frankreich meist ein gutes Stück kürzer als in vielen anderen Gegenden dieser Welt. Im Land der Aufklärung und der Revolution(en) zeigen sich soziale Verwerfungen in der Gesellschaft und Unruhe in der Bevölkerung schnell auf der Straße, sei es in friedlichen Massendemonstrationen oder in Straßenschlachten.
Die jüngsten gewalttätigen Unruhen, die von Immigrantenkindern, Jugendlichen und zahllosen anderen sozial Deklassierten aus den Banlieues in die französischen Innenstädte getragen wurden, mit dem Brodeln der vorrevolutionären Zeit um 1750 in Beziehung zu setzen, dieses Kunststück ist Wolfgang Schlüter in seinem grandiosen Roman Anmut und Gnade gelungen. Wir begleiten den Erzähler Walter Mardtner, Pressereferent eines Barockensembles, nach Paris zur CD-Einspielung und Premiere von Jean-Philippe Rameaus Ballett-Oper Les Indes galantes. Durch die Zufallsbekanntschaft mit dem Antiquar Grünspan gelangt Mardtner in den Besitz eines geheimnisvollen Konvoluts eines gewissen Jean Devin, der als quasi allwissendes Gedächtnis einer vergangenen Epoche fungiert und die Verwerfungen in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts in detaillierten handschriftlichen Notaten festgehalten hat.
Sozial befindet sich Frankreich ab 1750 am Siedepunkt einer feudalistischen Gesellschaftsordnung, die an ihren Gegensätzen von unermesslichem Prunk des Adels und bitterem Hunger und Armut der überwiegenden Bevölkerung zu zerbrechen droht. In der Musik tobt der so genannte Buffonistenstreit zwischen den Anhängern Lullys und Rameaus um die Verteidigung der traditionellen französischen Musik gegen den Andrang der Moderne aus Italien. Literarisch und politisch bereiten die Enzyklopädisten um Diderot, Rousseau und Voltaire die Aufklärung vor und geraten in Widerspruch zu König Ludwig XV. Je mehr sich Walter Mardtner lesend und rekapitulierend in die Unruhen einer vergangenen Epoche vertieft, umso näher kommt er dem Sog des Aufstands in der Gegenwart, bis er endlich eines nachts zwischen die Fronten prügelnder Polizisten und steinewerfender Jugendlicher gerät.
Wolfgang Schlüter schließt mit barocker Überschwänglichkeit Vergangenheit und Gegenwart kurz, er wagt sich an die Themen Terror und Toleranz mit einem funkelnden Kaleidoskop von Bildern und einer Fabulierlust, die bei einem schlechten Autor zum Debakel hätte werden können. Schlüter hingegen lässt bei aller Farbenpracht und Sprachmächtigkeit eine formale Strenge walten, die jedes Abgleiten ins Geschwätzige oder Chaotische unterbindet. Mit welcher Sicherheit und Kunstfertigkeit er Fiktion und Historie zu verbinden weiß, ist faszinierend.
Der Erzähler reagiert auf die Doppelbelastung durch (Straßen-) Schlachten in Vergangenheit und Gegenwart mit körperlichem Zusammenbruch und Fieberwahn, der Autor hingegen leitet die Engführung der Themen mit traumwandlerischer Sicherheit in eine reale Katastrophe des 21. Jahrhunderts. Die Explosion des Flugzeugs und der Tod des gesamten Orchesters als Spiegel des Terrors von 9/11 und das Pudern der Perücken im 18. Jahrhundert fasst Wolfgang Schlüter mit nahezu identischen Worten zusammen: eine grellblendend aufpuffende Wolke aus gleißend metallischem Staub, Myriaden aufblitzender Punkte und glühender Partikel, einen Sternentanz, schwebend und sprühend, zerstiebend und stäubend, dann allgemach sinkend zum Grund.
Rüdiger Behschnitt