Jost, Christian
Angst
5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst
Diese CD ist die Frucht eines Kompositionsauftrags, den der Rundfunkchor Berlin an den in Berlin lebenden Komponisten Christian Jost (*1963) erteilt hat. Die etwa einstündige Choroper Angst gliedert sich in die fünf Sätze Fallen Hölderlin Kalt Amok Ab und soll die verschiedensten Angstzustände nicht nur beschreiben (siehe Titel), sondern auch quasi dramatisch darstellen. Die Aufnahme entstand in Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur im Januar 2006. Die Texte von vier Sätzen stammen (da ohne Herkunftsangabe) wohl vom Komponisten selbst, einer von Hölderlin.
Jost beschreibt seine Aufgabe folgendermaßen: Wie schaffen wir es, [
] ein Musiktheater für einen Chor zu entwickeln? Die realistische Abbildung einer Handlung schloss sich von vornherein aus, denn um ein Spannungsverhältnis aufzubauen, braucht man Spieler und Gegenspieler, und die hat man nicht, wenn man nicht mit Einzelschicksalen operiert, sondern mit einer Masse. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Spiegel-Artikel über einen verunglückten Bergsteiger: Beim Rettungsversuch des Verunglückten musste der unversehrt gebliebene Partner schließlich das Seil durchtrennen, um sein eigenes Leben zu retten. Damit verletzte er eines der strengsten Tabus der Bergsteiger-Ethik.
Im ersten Satz Fallen wird nach einem farbig instrumentierten Vorspiel, dessen Klangfarbe sich der elektronischen Palette nähert, der Chor dafür eingesetzt, realistisch das Fallen des Bergsteigens u.a. durch lang gezogene Vokalisen darzustellen. Dagegen dient als Kontrast der zweite Satz Hölderlin der lyrischen Besinnung und wird musikalisch durch vielstimmigen A-cappella-Gesang ausgekleidet. Der dramaturgische Fortgang steht dabei ohne Angst quasi still.
Der dritte Satz Kalt beschreibt die Folgen des Absturzes in eine Gletscherspalte, wobei geschickt kontrastierend und dialogisierend mit weiblichen und männlichen Vokalstimmen die Situation von Abgestürztem und Retter geschildert wird, instrumental gestützt durch starre Klangblöcke. Der vierte Satz Amok umreißt musikalisch die psychologische Wandlung des Retters durch vokales Wechselspiel von Sprechgruppen und solistischem Gesang, instrumental verstärkt durch flirrende Flöten- und Celloklänge. Dabei treten auch aus dem Unterbewusstsein grausame Erinnerungen auf und reflektieren die psychologische Stimmung.
Der abschließende fünfte Satz, kurz Ab überschrieben, endet nach auf- und abschwellendem, vielstimmigem fonetischem Klangteppich mit den still deklamierten Worten Schneide ab geschnitten schneidend schnitt es ab ab und führt damit zum Tod des Verunglückten. Mit diesem abrupten Ende werden psychologisch die Folgen des überlebenden Bergsteigers ausgeklammert. Sie bleiben dem Hörer überlassen
Doch was bleibt nach dem Lesen des ausführlichen Booklets (das zum Verständnis der Choroper unbedingt notwendig ist)? Mir fällt Arnold Schönbergs Psychodrama Erwartung ein, wo von einer einzigen Sängerin die sich kontinuierlich steigernden Angstmomente in einer einzigen Klimax geschildert werden, während sich bei Josts Angst der Eindruck eines musikalischen Zwitters verdichtet, bei dem die optisch-szenische Komponente fehlt.
Rudolf Lück