Am fernen Horizonte

Männerchöre der Liedertafel, mit Werken von Anton Richter, Friedrich Silcher, Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy, Peter von Winter u. a.

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Capriccio 67 023
erschienen in: das Orchester 03/2004 , Seite 84

Männerkehlen, Hörnerschall, Hallo und lustiges Jagen im grünen Wald – Lied hoch! Weckrufer der liedertafelnden Singbewegung war der Zürcher Pädagoge und Musikverleger Hans Georg Nägeli. 1809 veröffentlichte er einen flammenden Aufruf zum chorischen Singen. Daraufhin gründeten sich vielerorts Singakademien, Liederkränze und Männergesangvereine, die sich zu Sängerbünden zusammenschlossen. Diese „Liedertafeln“ zehrten von Reichardts Sammlung Frohe Lieder für deutsche Männer und Silchers Volksliederheften für vier Männerstimmen, bevor Mendelssohn, Schumann und Carl Maria von Weber ihr Repertoire nach Kräften erweiterten.
Wenn nun der MDR Rundfunkchor das angelaufene Zepter jener Liedertafeln ergreift und blank poliert, so entfremdet er jenes der feierabendlichen Zünftigkeit, der es entstammt. An einer Stelle freilich erinnern die Leipziger Chorherren spaßeshalber an die aufgekratzte Schützenfestlichkeit von ehedem: in Mendelssohns Männerchor-Szene Liebe und Wein, in der sich „Herz“ auf „Liebesschmerz“, „Augen rot“ auf „Liebesnot“ und „Sorgen ohne Zahl“ auf „Liebesqual“ reimen.
Ansonsten aber ist frisch-fröhlicher Sangesmut angesagt. Doch hüten sich die kehlfertigen Radiosänger unter ihrem künstlerischen Leiter Howard Arman vor hurrapatriotischem Überschwang. Auch wenn sich der „jungdeutsche“ Dichter Heinrich Laube in Schumanns Fünf Jagdliedern brüstet: „Wo gibt es wohl noch Jägerei / als wie im deutschen Land! / Der Franzos’ … / schießt Vögel, der Fant.“ Und in Engelland? „Da ist nichts mehr / als wie das Huhn zu Haus.“ Fazit: „Die ernste strenge Jägerei, / die kennen wir allein.“
Dass das lustige Jagen nicht immer glücklich ausgeht – auch das gibt Schumann mit Laube zu bedenken: „Habet Acht auf der Jagd! / Mancher ist zu Grund gegangen / weil der Nachbar sich verfangen / und ein Lauf ist losgegangen.“ Böse Erinnerungen, die den Leipziger Sangesbrüdern leise Schauer über den Rücken jagen. Die Verzagtheit weicht der Behutsamkeit, wenn der Komponist im selben Zyklus die Morgendämmerung beschwört: „Dämmer ist Wildes Braut, / Dämmer macht Wild vertraut.“
Natürlich kommt romantischer Männergesang nicht gänzlich ohne Wehmut aus. Man denke nur an Mendelssohns Der Jäger Abschied, wo Eichendorff den schönen Wald so hoch da droben aufbaut, von dem es am Ende ergriffen heißt: „Lebe wohl, schirm dich Gott, du deutscher Wald!“ Wem käme da nicht der Waldschadensbericht in den Sinn? Und schließlich: Welches Frauenherz bliebe ungerührt, wenn die Herren in Mendelssohns Abendständchen dem „buhlerischen Wind“ ihr Schlaflied für die Liebste anvertrauen? In frommer Anwandlung geht die Liedertafelstunde zu Ende: mit einer Melodie aus Johann Friedrich Reichardts riesigem Liederschatz, die Howard Arman für Männerchor und Hornquartett wohltönend bearbeitete: Heilige Nacht! Nacht der unendlichen Liebe!
Da das famose Leipziger Hornquartett nun einmal zur Liedertafelpartie gebeten war, nutzte Arman die Gelegenheit, auch einige Sätze Mendelssohns, Schumanns und Webers sowie den Opern-Jägerchor Laut tönet durch Berg und Tal des vergessenen Münchner Hofkapellmeisters Peter von Winter mit Hörnerbegleitung bzw. Jagdfanfaren auszustatten. Sängern, Bläsern und Chormeister ein dreifaches Vivat und Halali!
Lutz Lesle