Schläbitz, Norbert
Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen
Vom Neuhumanismus als Leitkultur, von der "Wissenschaft" der Musik und von anderen Missverständnissen
Mit dem Bildungsbegriff assoziieren wir, anders als bei Wörtern wie Erziehung, Ausbildung und Sozialisation, eine besondere Qualität in der Entwicklung von uns Menschen. Es geht um die Reifung der allseits gebildeten Persönlichkeit, ihre geistige Entfaltung, Selbstständigkeit, Individualität, Vervollkommnung, um die charakterliche Festigung und Mündigkeit auch und erst recht in ethischen und moralischen Fragen. Sachwissen und praktische Fähigkeiten sind diesem Ideal unter- und allenfalls zugeordnet. Die Kunst und insbesondere die Musik sind die ideale Basis des Sich-Bildens (im Prozess) und Gebildet-Seins (im Zustand): Mit der Kunst als Realisierung der Prinzipien des Wahren, Schönen und Guten, der Wahrhaftigkeit, Universalität und Zeitlosigkeit bildet sich der Mensch.
So weit der Traum. Norbert Schläbitz beleuchtet die Ideen zum Bildungsideal von Plato und Aristoteles über Winckelmann, Goethe, Schiller und dann Humboldt bis in die heutige Zeit; der Blick auf die Fachdisziplin Musik bildet einen speziellen Fokus. Dabei vertieft er sich sowohl in das ideologische Denken als auch in die realen vor allem schulischen und universitären Praxen von (neu-)humanistischer Bildung. Und er findet nur Wunschdenken, Mythen, Fantasien, Halluzinationen: Alles nur erträumt. Man erkennt im historischen Rückblick auf die Vorlagen und Vorbilder der neuhumanistischen Bildung, im Wesentlichen im antiken Griechenland, hauptsächlich Fehler, Missverständnisse und Fantasien. Aber auch die Idee der Bildung in der realen Praxis bis heute erweist sich als reines Wunschdenken. War sie einmal als eine Vision für alle Menschen gedacht, erkennt man heute eher die Exklusion der meisten und die Eingebildetheit einer Minderheit.
Mehr noch trägt der Bildungshumanismus die Möglichkeit und gar die Tendenz zum Inhumanen in sich. Dies hat sich auf erschütterndste Weise im bildungsbürgerlichen Humus des Nationalsozialismus wie auch in der Nähe vieler Bildungsbürger, darunter viele Dichter und Musiker, zur nationalsozialistischen Ideologie und Praxis gezeigt. Der Bildungstraum ist zum Trauma geworden.
Das Lesen der Analysen und Argumentationen des Autors Schläbitz auf ca. 400 Seiten ist nicht ganz einfach. Die Sprache changiert zwischen klarer Darstellung theoretischer und historischer Zusammenhänge, also wissenschaftlicher Textform, ironischem und hämischentlarvendem Tonfall wie in einem Pamphlet und engagiertem, leidenschaftlichem Sprachduktus; Letzteres vor allem im Aufruf zum Aufbruch zu einer transhumanistischen Bildung über die Ideologie des Neuhumanismus hinweg. Man muss es schaffen, sich über die spezifische Textform und Sprache hinaus auf die argumentative Auseinandersetzung und deren Begründungen einzulassen. Dann geht von diesem Buch viel Anregung zum Mit- und Weiterdenken aus.
Franz Niermann