Kollo, Willi

“Als ich jung war in Berlin…”

Literarisch-musikalische Erinnerungen, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2008
erschienen in: das Orchester 05/2009 , Seite 63

Wenn ein Textdichter, Komponist, Pianist, Liedersänger und Kabarettist seine Lebenserinnerungen schreibt, kann man sich auf pointierte Aussagen freuen. Wenn zudem das Wirken seines in denselben Sparten nicht weniger berühmten Vaters Walter (1878-1940) aus der Zeit der Jahrhundertwende bis in den Zweiten Weltkrieg mit allem, was politisch und kulturell hineinspielt, Gegenstand ist, wird das Buch ein einzigartiges Zeitdokument. Willi Kollo (1904-1988) hat seiner Tochter, der Musikverlegerin und Künstleragentin Marguerite Kollo, umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen. Mit Bild- und Tondokumenten (Musik und Texte von Walter und Willi Kollo, historische Aufnahmen von1927-1946), hilfreichen Begriffserklärungen und einem Namensregister, das nicht nur auf die Seitenzahlen verweist, sondern auch die Funktionen und Lebensdaten liefert, wird das Buch zu einem Standardwerk.
Willi Kollos Großvater Carl Kollodzieyski war ein wohlhabender Kaufmann in Ostpreußen. „Von dem, was mein Großvater hinterließ, bekam mein Vater Walter gar nichts, mein Stiefonkel Fritz alles.“ Immerhin ließ man Walter Musik studieren… Walter Kollo wurde Operettenkomponist – in Erinnerung blieben allerdings nur seine Lieder. Er war Mitbegründer der GEMA, die „ohne seine Popularität unmöglich so schnell und breit hätte Fuß fassen können“. In Anekdoten wird die Kunstszene Berlins beschrieben und auf die fördernden Kontakte Walters eingegangen, die zu dessen Erfolgen führten.
Willi Kollo verbrachte seine drei ersten Lebensjahre bei seiner Großmutter in Schlesien, weil sein Vater sich in Berlin verwirklichen musste und seine Mutter als Tingeltangelsängerin immer unterwegs war. Seine Leiden in den Berliner Schulen, später in einem Internat, die geprägt waren von einem heute unvorstellbaren Kastenwesen und gewalttätigen Erziehungsmethoden, aber auch mit seltenen Freund- und Liebschaften, schildert er eindringlich. Der Erste Weltkrieg brachte traurige Abschiede, den Film als neue Weltmacht, die Einquartierung von Soldaten – und unwahrscheinlichen Erfolg mit dem Stück Immer feste druff.
Die Schilderung der 1920er Jahre und der Nazizeit gerieten zum eindrücklichsten Kapitel und lesen sich wie ein Roman. Wir erfahren hier von der Art und Weise, wie beide, Vater und Sohn, sich unter größten Anstrengungen der politischen Vereinnahmung entziehen konnten sowie von der schlagfertigen Rechtfertigung vor der britischen Entnazifizierungsbehörde. Man kann nur jeden ermuntern, sich dieses Buch vorzunehmen.
Walter Amadeus Ammann